Im Interview spricht der Tenor Jonathan Tetelman über den richtigen Umgang mit einer dramatischen Stimme, über Puccinis eindimensionale Tenorrollen und die Vorteile kleiner Häuser.
Interview: Uwe Friedrich
Sie singen die großen, populären und zumindest dem Fan-Publikum allzu vertrauten Tenorrollen in den größten Opernhäusern. Haben Sie Lampenfieber?
Wenn die großen Hits in einer Oper kommen, ist mir selbstverständlich bewusst, dass fast jeder im Publikum die Arie kennt, sie vielleicht in mehreren Aufnahmen oder vielen Aufführungen mit grandiosen Sängern gehört hat und mich mit ihnen vergleichen wird. Aber davon darf man sich nicht einschüchtern lassen. Es ist einfach eine Aufführung, in der ich versuche, so gut wie möglich zu singen. Ich vertraue auf meine Gesangstechnik und auf meine Intuition, und in der Regel funktioniert das gut. Sobald man versucht, ein berühmtes Vorbild zu kopieren, bekommt man Probleme. Das funktioniert eigentlich nie, weil ich nicht diese andere Persönlichkeit bin, sondern meinen eigenen Weg finden muss. Das ist einer der Gründe, warum ich gerne weniger bekannte Oper singe wie Verdis I due Foscari oder Zandonais Francesca da Rimini, denn da gibt es nicht so viele Vergleichsmöglichkeiten. Dann sagt auch kaum jemand, das hat Tenor X aber schöner gesungen oder Tenor Y eleganter. Ich genieße diese Freiheit der Interpretation.
Bei unbekannten Opern hat nicht nur das Publikum keine vorgeprägte Meinung. Sie müssen sich die Rolle ebenfalls ohne Vorbilder erarbeiten. Ist das schwieriger?
Man hat weniger Anknüpfungspunkte. Das gilt übrigens auch für Korrepetitoren und sogar für Dirigenten. Wir alle müssen uns dann auf eine Entdeckungsreise machen. Das bedeutet mehr Arbeit, aber das Risiko ist geringer. Ich muss eine stilistisch überzeugende Interpretation finden, die auch zu meiner Stimme passt. Ich mag Puccinis Stil wahnsinnig gerne, aber er passt nicht unbedingt zu Verdi, zu Macduff in Macbeth oder zu Jacopo Foscari. Diese Rollen erfordern eine andere Feinarbeit. Verdi steht noch in der Belcanto-Tradition der romantischen Oper. Es braucht Klarheit bei gleichzeitiger vokaler Präsenz. Puccini geht viel mehr in die Vollen. Da geht es mehr um die große Emotion als um die gesangstechnischen Feinheiten. Wie man das angemessen gestaltet, muss ich jedes Mal neu herausfinden.
Für Calaf in Turandot oder Mario in Tosca braucht man auch schlicht Kraft und stimmliche Expansionsfähigkeit, als Canio in Pagliacci auch Brutalität im Ausdruck. All das nutzt wenig, wenn man nicht auch Freude daran hat, mal richtig aufzudrehen. Wie kriegen sie als Tenore lirico spinto, die italienische Version des Jugendlichen Heldentenors, all das unter einen Hut?
Um das eine Extrem glaubwürdig darzustellen, muss man auch das andere Extrem beherrschen. Um Canios Brutalität zeigen zu können, muss ich auch seine Sensibilität und Weichheit auf die Bühne bringen. Von Anfang bis Ende brutal, das mögen weder die Stimmbänder noch das Publikum. Das ist außerdem langweilig. Wenn Canio aber zu Beginn der Oper fast ein Romantiker ist, ist der Mörder Canio noch schockierender. Leoncavallo hat das so geschickt komponiert, dass sich die Rolle dem Interpreten beinahe von selbst erklärt, man muss nur seiner Spur folgen.
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