Liebe Leserin, lieber Leser –
als Alessandra Marc als Aida die Bühne betrat und zu singen begann, kam es im Publikum zum kollektiven Neuronenfeuerwerk. Ein solches Profil hatte man noch nicht gesehen. Die üppige Dame mit dem riesigen Busen und dem ungewöhnlich weit auskragenden Steiß, großzügig ummantelt vom Fleisch, auf dem sich das Kostüm staute, um im großen Bogen den Blick auf die Säulen des Körpers freizugeben, erlaubte keine andere Fokussierung als auf ihren Leib. Doch dann diese Stimme! Schwebend, zartfein, omnipräsent als stünde sie gleichzeitig auf mehreren Bühnen im Raum. Ein (wahrnehmungs)ästhetischer Kurzschluss, unmöglich beides sofort zusammenzubringen, das Gehirn brauchte einen Moment. Ein wandelnder Fels, der orkanstarke Engelstöne von sich gab.
Wohlbeleibte Sängerinnen war man zu der Zeit gewohnt. Montserrat Caballé, Jessye Norman, Deborah Voigt – sie alle hatten die Kleidergröße 36 schon lange aussortiert, sofern sie sie überhaupt jemals besaßen. Doch die Figur von Alessandra Marc war eine Kategorie für sich. Und niemand hatte ein Problem damit. Die Kissen, auf die sich die Sopranistin knien konnte, brachte sie als Ariadne gleich selbst mit auf die Bühne, eines unter dem linken, das andere unter dem rechten Arm. Aufstehen ging dann nur mit fremder Hilfe.
Geschichten solcher Art ließen sich dutzend-, wenn nicht gar hundertfach erzählen, von früheren Generationen noch viel mehr. Oper ist, wenn die dicke Dame singt. Heute allerdings schon lange nicht mehr. Warum nicht? Der Anteil der stark Übergewichtigen an der Bevölkerung hat sich seit 1990 mehr als verdoppelt, die WHO spricht gar von einer „Epidemie“ – für die Opernbühne ist eher der entgegengesetzte Befund zu konstatieren. Liegt’s am bösen Regietheater, das nur Modellgrößen sehen will, am Publikum, an den Künstlern selbst? Die Ursachen sind weniger einfach zu benennen als man spontan denken möchte. In unserem Themenbeitrag gehen wir ihnen nach.
Andere Big Girls der Kunstform in Gestalt groß geratener Werke erleben dagegen gerade eine Renaissance. Von manchen Opernmachern leichtfertig abgetan als Opus minderer Güte, bejubelt das Publikum Amilcare Ponchiellis früher oft, heute kaum aufgeführte La Gioconda trotzdem unverdrossen in gleich zwei neuen Inszenierungen bei den Osterfestspielen Salzburg und am Teatro di San Carlo in Neapel. Beide szenisch eher bebildernde Produktionen werden in den nächsten Jahren auch noch an anderen Häusern zu sehen sein. Nur in Berlin, an der Deutschen Oper, hat der künftige Intendant Aviel Cahn jetzt schon die Verschrottung der 50 Jahre alten Kultinszenierung entschieden. Zugleich wäre er eigentlich der Richtige, einmal die politische Aktualität des Stücks zeigen zu lassen, in dem es um Denunziation, Manipulation der Massen und Arbeiten mit Angst geht. Es postulieren doch immer alle, dem Publikum die Oper nahebringen zu müssen. Ein Anfang wäre vielleicht damit gemacht, wenn die Opernschaffenden selbst ihre Denkbarrieren und Berührungsängste schleifen würden. Dem Repertoire würde es guttun.
Mit einem, dem das gelungen ist, haben wir gesprochen: Antonio Pappano. Er hat nicht nur die Gioconda in Salzburg dirigiert, Pappano verlässt nach 22 Jahren als Musikdirektor des Royal Opera House Covent Garden das Haus zum Ende der Saison. Zeit für ein Resümee.
Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre!
Herzlich, Ihr Ulrich Ruhnke
Chefredakteur