Statt des neuen Don Giovanni von Ivo van Hove zeigt die Pariser Oper die gut abgehangene Inszenierung von Claus Guth. Die hat in 15 Jahren nichts von ihrer analytischen Schärfe verloren.
Von Simon Morgan
Weshalb die Opéra de Paris entschieden hat, Ivo van Hoves düstere Don Giovanni-Inszenierung nach nur zwei Spielzeiten (2019 und 2022) wieder abzusetzen, sei dahingestellt – vielleicht waren die Bühnenbilder tatsächlich wegen zu hoher Transportkosten in New York steckengeblieben. Aber es tat gut, Claus Guths inzwischen 15 Jahre alte, kompromisslos finstere Neudeutung aus Salzburg wiederzuentdecken, die nach anderthalb Jahrzehnten nichts an psychologischer Tiefe, analytischer Schärfe, auch nicht an Menschlichkeit eingebüßt hat.
Guths dunkle Sichtweise – die nach der Salzburger Premiere im Jahr 2008 inzwischen 802 Mal aufgeführt wurde, u.a. in Amsterdam, Berlin und Madrid – lässt Mozarts Dramma giocoso in einem unheimlichen, nächtlichen Wald spielen. Während der Ouvertüre sehen wir, wie – im ausgeschnittenen Kreis und in Zeitlupe (der James-Bond-Vorspann lässt grüßen) – Don Giovanni im Kampf mit dem Commendatore schwer verletzt wird: eine Schusswunde, an der er über die Dauer der nächsten drei Stunden langsam krepiert.
Guth siedelt die Handlung sehr klar in unserer Zeit an. Don Giovanni und Leporello sind heruntergekommene, drogensüchtige, biersaufende Lebemänner, die an einer verlassenen Bushaltestelle mitten im Wald und mitten in der Nacht ihren Unsinn treiben. Während seines langen Kampfes gegen den Tod flammt Don Giovannis Lebenswille immer neu auf, besonders wenn eine schöne Frau aus dem dunklen Wald auftaucht. Guths Frauenfiguren sind aber keineswegs nur Opfer eines notorischen Schürzenjägers. Donna Anna ist eine leidenschaftliche, willige Liebhaberin, die zuerst vom Tod ihres Vaters nichts mitbekommt, hinterher aber von schrecklichen Gewissensbissen geplagt wird. Donna Elvira versucht, den verwundeten Don Giovanni zu trösten, wenn er am Boden liegt und von allen anderen verlassen ist. Und Zerlina will über die Tändelei mit Don Giovanni Masettos Eifersucht anstacheln.
Guths oft frappierende Regieeinfälle erweisen sich als ebenso schlüssig wie aufschlussreich, zum Beispiel wenn Zerlina am Ende des ersten Akts voller Panik um Hilfe ruft, weil sie merkt, dass ihr Kleid voller Blut ist. Es ist aber das Blut aus Don Giovannis Wunde, nachdem sie sich mit ihm auf dem Boden gewälzt hat, nicht ihr eigenes. Für die „Champagnerarie“ knackt Don Giovanni eine Bierdose auf und übergießt sich selbst mit deren Inhalt. Guths Inszenierung verweigert jegliche Höllenfahrt am Ende. Trotzdem geht die Schlussszene unter die Haut, wenn der Commendatore ein Grab ausbuddelt, in das Il dissoluto punito dann endlich tot hineinfällt.
Sängerisch war der Abend hochkarätig und überzeugend besetzt. Peter Mattei singt die Titelpartie seit mehr als 20 Jahren an den besten Häusern der Welt, nicht zuletzt in der Inszenierung von Ivo van Hove in New York. Sein glatter, samtiger Bariton bleibt auch mit fast 60 Jahren angenehm wohlklingend und „Deh vieni alla finestra“, auf dem Boden gesungen, war berückend, die „Champagnerarie“ frech und viril.
Das Zusammenspiel mit Alex Espositos Leporello, der eine merklich ruppigere und schroffere Stimme hat, war intensiv und überzeugend. Beide warfen sich sowohl körperlich als auch vokal in ihre Rollen. Gaëlle Arquez, die in Paris zuletzt als Carmen zu hören war, musste sich als Donna Elvira erst warm singen und hatte am Anfang manche Mühe, die Spitzentöne zu erreichen. Ihr Mezzosopran aber hat eine angenehm prickelnde Säure, die die manchmal etwas verklemmte Rolle, die Guth ihr zuschreibt, auflockert. Ihre Verletztheit in „Mi tradí“ war berührend und erntete zu Recht viel Beifall.
Nach einem etwas unsicheren ersten Eindruck gewann auch Adela Zaharias Donna Anna im Laufe des Abends an silbrigem Glanz und leuchtender Souveränität. Ihr versatiler Sopran konnte sowohl sinnlich als auch zart sein. Ying Fangs Zerlina war lebendig und forsch mit einem runden und farbenfrohen Klang. Als Don Ottavio gab Ben Bliss sein Debüt an der Opéra de Paris. Er hatte die Rolle auch zuvor in der Inszenierung von Ivo van Hove in New York gesungen. Mit seinem geschmeidigen Tenor, etwas dunkler als die Rolle häufiger besetzt wird, konnte er seinen beiden Arien eine zarte, innige Eleganz verleihen.
Der Bassbariton Guilhem Worms war ein etwas schüchterner und manchmal unbeholfener Masetto, der nicht immer mit den schnellen Tempi im Graben mithalten konnte. John Relyeas dunkler, bronzener Bass überzeugte als Commendatore, auch wenn er von der Hinterbühne nicht immer optimal zu hören war. Antonello Manacorda dirigierte das Orchestre de l’Opéra national de Paris flott und lebendig, ständig den Sängern aufmerksam lauschend, nie übertönend.