Der Regisseur Kirill Serebrennikow reüssiert mit seinem Parsifal an der Wiener Staatsoper, trotz szenischer Ungereimtheiten. Sängerisch bleibt kaum ein Wunsch offen.
Von Christoph Irrgeher (Redakteur der Wiener Zeitung)
[restrict role=“subscriber, customer“ page=“2164″]Als langjähriger Besucher kennt man sie: Diese Momente, in denen ein Buh-Orkan in der Luft liegt. Da schleicht schon in den Schlussminuten ein dumpfes Grollen durch den Saal, da warten die Zornesblitze nur noch auf den letzten Vorhang, um ihrer zerstörerischen Energie freien Lauf zu lassen. So ein Sturm wäre am 11. April womöglich an der Wiener Staatsoper losgebrochen, hätte das zahlende – und partiell eher konservative – Publikum Einlass erhalten. Doch die Covid-Maßnahmen hatten dafür gesorgt, dass nur eine Hand voll Berufshörer der Premieren-Aufzeichnung des neuen Parsifal beiwohnen durfte. Die Allgemeinheit konnte die lange erwartete Produktion erst eine Woche später über Streaming-Portale sichten; auf Arte Concert ist der Abend noch bis Mitte Juli kostenlos abrufbar.
Dort dürfte dieser Parsifal erkleckliche Click-Zahlen verbuchen, stammt die Inszenierung doch von Kirill Serebrennikow. Der russische Theaterstar beschäftigt die Feuilletons bekanntlich nicht nur mit frappanten Werkdeutungen: Im Zuge einer umstrittenen Strafverfolgung in seiner Heimat verbrachte er Monate in Haft und Hausarrest; im Vorjahr wurde der politisch Unliebsame schließlich mit einer Bewährungsstrafe belegt. Serebrennikow hat nun auch Wagners Parsifal in ein Zuchthaus verfrachtet. Wieso? Bei der Entscheidung schwingt auch seine persönliche Geschichte mit, ließ der Russe bei einer Pressekonferenz durchblicken. Doch auch das Ausgangsszenario des Librettos rechtfertigt den Ansatz: Wagners Ritterbund hofft auf Befreiung, seit sein Anführer Amfortas wund darniederliegt und sich weigert, das lebensverlängernde Ritual der Gralsenthüllung zu vollziehen. Diese Gesellschaft ist, sozusagen, gefangen.
Eine griffige Metapher macht aber noch keinen Opernabend, schon gar nicht, wenn sie sich an allen Ecken und Enden mit der Handlung spießt. Das beginnt schon, wenn sich Gurnemanz‘ „He! Ho!“-Weckruf im ersten Aufzug ad absurdum führt, weil die Häftlinge rundum längst hellwach Gewichte stemmen; und es zieht sich bis zu Parsifals Lob auf die schöne Aue, gesungen im schnöden Betongrau. Diese Bild-Text-Scheren klaffen wie Amfortas-Wunden. Gleichwohl müht sich Serebrennikow, die Schlüsselmomente des Parsifal in seine Bilderwelt einzupassen. Etwa anfangs den Tabubruch des Titelhelden, wenn dieser noch unbedarft in den Männerbund hereinplatzt: Verärgert Wagners Parsifal die Ritter durch seine Schwanenjagd im Gralsbezirk, wehrt sich Serebrennikows Pendant im Duschraum gegen einen Annäherungsversuch mit Totschlag – heftig dargestellt auf den drei (daueraktiven) Bildschirmen am oberen Bühnenrand.
Die Kernfrage bleibt aber: Wer sind diese tätowierten Kerle im aufwändigen Zellentrakt-Bühnenbild? Knastbrüder von heute oder irgendwie doch Ritter im Geiste? Das erschließt sich auf der Bühne nicht, sondern lediglich im Programmheft. Die Inhaltsangabe dort erzählt von Häftlingen, die aus merkwürdigen Mythen Kraft schöpfen, von einem Neuling, der sich in der Hierarchie hochhangelt und von einer Fotoreporterin namens Kundry mit einem ziemlich unguten Chef. Der will Parsifal nach dessen Entlassung manipulieren und stellt die bewährte Mitarbeiterin darauf ab. Die Szene endet, peng! peng!, allerdings übel für den Geschäftsführer. Ein verworrener Plot – wohl auch dazu erfunden, um die Logiklöcher der szenischen Darbietung zumindest auf dem Papier zu schließen.
Nimmt man diesen Parsifal aber nicht als Erzählung beim Wort, sondern als Bilderflut in sich auf, entfacht er eine enorme Wirkung. Vielleicht noch nie hat die Wiener Staatsoper ein so filmisch-präzises, wuchtig körperliches und zugleich seelisch berückendes Schauspiel erlebt. Wie sich Amfortas, gezeichnet von einem Hang zur Selbstverletzung, mit einer imaginierten Vaterstimme im Ohr die Adern öffnen will, steht exemplarisch für die Beklemmungsmomente dieses Abends. Poetisch die Verdoppelung des Titelhelden: Von Anfang an steht einem jungen, naiven Parsifal (Schauspieler Nikolay Sidorenko) hier das gereifte Ritter-Alter-Ego des dritten Akts gegenüber. Metallisch-markant im Klang, singt Jonas Kaufmann diesen bejahrten Heilsbringer während der ersten beiden Akte meist von der Rampe aus. Berührend: In einem Akt höherer Erkenntnis vermögen sich die beiden kurz zu sehen; Schnee fällt dabei in den Gefängnistrakt.
Musikalisch begeistert nicht nur der Tenor mit dem unverkennbaren Timbre, der die Häftlinge letztlich aus der tristen Zellenburg führen wird. Georg Zeppenfeld verleiht dem Gurnemanz einen klaren, konturierten Bass; Ludovic Tézier gießt den Selbsthass des Amfortas in siedeheiße Töne; Wolfgang Koch brilliert als hartherziger, höhnischer Klingsor. Und Elīna Garanča als Kundry? Mit ihren lodernden Kantilenen, purpurnen Lockrufen und gleißenden Spitzentönen ein Quell mystischer Energie. Der Chefdirigent Philippe Jordan animiert den Chor zu einer kompakten Leistung und erzeugt mit dem Staatsopernorchester einen fiebrigen, feinabgestuften, klangfarbenprallen Drive: ein energischer, gleichwohl subtiler Sound. Wie das post-pandemische Wiener Publikum auf diesen Wagner reagieren wird, bleibt freilich abzuwarten.
Wagner: Parsifal
Premieren-Aufzeichnung am 11. April 2021 (auch besuchte Vorstellung)
Mskl. Leitung: Philippe Jordan, Inszenierung: Kirill Serebrennikow (auch Bühne und Kostüme), Licht: Franck Evin, Video-Design: Aleksei Fokin, Yurii Karih, Dramaturgie: Sergio Morabito
Jonas Kaufmann (Parsifal), Elīna Garanča (Kundry), Ludovic Tézier (Amfortas), Georg Zeppenfeld (Gurnemanz), Wolfgang Koch (Klingsor), Stefan Cerny (Titurel)
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