An der Pariser zeigt Regisseur Tobias Kratzer seine geniale Faust-Inszenierung, die vorerst noch ohne Live-Publikum auskomme muss – leider!
Von Manuel Brug
Sensibel und aufmüpfig, werkgetreu und innovativ, witzig, unterhaltsam, anrührend, großformatig und intim, und insgesamt sehr pariserisch – das ist der neue Faust an der Opéra de Paris.
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Ein Riesenerfolg, auch wenn er bisher nur im französischen Fernsehen gezeigt werden konnte und die Kinoauswertung sowie die Live-Wiederaufnahme vor Publikum in der nächsten Spielzeit pandemiebedingt noch ausstehen. Doch dem bewährten Team – der Regisseur Tobias Kratzer im Verein mit seinem Ausstatter Rainer Sellmaier und diesmal auch Video-Mitgestalter Manuel Braun – ist in der leeren Bastille-Oper bei seinem Pariser Debüt neuerlich ein Glanzstück geglückt. Ein Glanzstück, das manches, was man von den Machern kennt, variiert, anderes mit Verve neu erzählt, das ernst und gleichzeitig ironisch ist, mit der Gattung Grand Opéra spielt, aber seine Gesetze kennt und für Sänger und Zuschauer pures Seh- und Hörvergnügen bereithält.
Der so deutsche Künstler Faust, das war 1859, in der am aufgeheizt sexualisierten, freilich auch weihrauchumflorten Zeitgeist geschulten Lesart Charles Gounods und seiner Librettisten Jules Barbier und Michel Carré ein Mann auf der Suche nach dem Weib und der Liebe, nicht so sehr auf der nach Weltwissen und Wahrheit. Der deutsche Erkenntnisgewinnler Goethe ist schon durch die jenseits des Rheins prägende Übersetzung von Gerard de Nérval, die übrigens erst 1999 erstmals an der Comédie-Française gezeigt wurde und auf die sich schon Hector Berlioz für seine Legènde-dramatique La damnation de Faust gestützt hatte, eher sentimentalisiert worden. Weshalb Gounods Vertonung im Operndeutschland des 20. Jahrhunderts auch verschämt hauptsächlich als Margarete und nicht als Faust auf dem Spielplan erschien.
Ein faltiger Mann, der nach nacktem, auf der Couch hingestrecktem Frauenfleisch grabscht, das er freilich nur noch käuflich erwerben konnte. In einem weißen, getäfelten Raum mit Bibliothek-Alkoven (samt Goethe-Büste), zeitlos elegant und geschmackssicher eingerichtet. Juste Milieu, eher links, wie der bourgeoise Klüngel des Rive Gauche, der gerade in letzter Zeit durch diverse Sex- und Inzest-Skandale in seinen Laissez-faire-Grundfesten erschüttert wurde. Ort und Zeit wären also festgelegt, hebt sich der Vorhang noch über der von Lorenzo Viotti mit Gusto und feinem Parfüm überstäubten Ouvertüre.
Ein alter Faust, nämlich der Schauspieler Jean-Yves Cilot, Kratzer zeigt das überdeutlich, genauso wie der wunderfein singende und am Rand mit Notenständer bereitstehende Benjamin Bernheim als dessen junger Wiedergänger. Die größte französische Tenorhoffnung groovt sich langsam ein in diese Parade-Partie, die er, nach einer ersten, konzertanten Erkundung der Urfassung mit Christophe Rousset für die Fondation Palazzetto Bru Zane vor zwei Jahren im Théâtre des Champs-Élysees, in Frankreich erstmals szenisch gestaltet. Als Méphistophélès mit Dracula-Umhang und sechs hilfreichen Teufelchen an seiner Seite zwischen den Büchern auftaucht und Faust den Verjüngungstrank verspricht, übernimmt Bernheim auch szenisch: Kratzer bricht jede Illusion und hält sie als Erzähler doch aufrecht.
Nach einem Marvel-Helden ähnlichen Videoflug am Halteseil über die nächtliche Stadt und einen Besuch bei den Wasserspeiern von Notre-Dame ist klar: Die Verbeugung vor der ähnlichen Szene in Murnaus Faust-Stummfilm situiert diesen Faust eindeutig in einem zeitlosen Paris von heute. Kratzer & Co. kennen ihre historischen wie popkulturellen Verweise, und sie zeigen ihr Spielbesteck her.
Das Kirmeswalzertreiben ereignet sich in einer Banlieue-Boîte, die Discokugel kreiselt, der maskenbewehrte Chor zuckt. Dazwischen hängt Gretchen am Handy, ihr Bruder Valentin (ein Hulk mit warmem, legato-stömendem Bariton: Florian Sempey) passt mit seiner Baseball-Gang auf, und der ewige Verehrer Siebel (mezzospitz: Michèle Losier) nervt mit seinen Blümelein. Alles ereignet sich ganz beiläufig. Der hoch aufgeschossene, schlankstimmig sämig singende, trotzdem virile Christian van Horn führt deutliche Teufelstaschenspielereien vor. Seine Dämonie ist begrenzt, auch die Wirkung seines Tranks. Immer wieder taucht der alte Faust auf, es muss nachgefüllt werden, damit Bernheim betörend, metallisch und mit vollkommener voix mixte weitersingen kann.
Das alles gleitet so fantastisch wie professionell vorüber. Und kommt doch in der großen Gartenquartett- und Duettszene des dritten Aktes, der in einem anonymen, aber in den Appartements zu ebener Erde und im ersten Stock doch heimeligen Wohnblock spielt, zum lyrischen Verweilen, Auskosten und herrlich genussreichen Gounod-Singstopp. Das schwelgt und ist doch perfekt personengeführt, zusätzlich gibt es zur Intensivierung ein paar gezielte Videogroßaufnahmen der Figuren. Grandios konzentriert lässt Ermonela Jaho in der „Thule-Ballade“ und der „Juwelenarie“ ihren intensiven Sopran aufblühen, schlank und stetig; von unten mischt sich Sylvie Brunet-Grupposo als gar nicht altjüngferliche Dame Marthe ins Verführungsspiel. Geschwängert wird Margarete – kann oder will Faust nicht? – von Méphistophélès.
Die Teufelsbrut bekommt Gretchen erstmals auf dem Gynäkologen-Ultraschall zu Gesicht, Siebel muss trösten (beide dürfen ihre Arien im vierten Akt singen, man spielt die Grand-Opéra-Version von 1869; nur im Ballett wurde gekürzt), Méphistophélès bedrängt die Schwangere (ein visuelles Meistervideostück) in der fahrenden Metro und nicht in der Kirche. Folgerichtig tötet sie dieses Kind. Brachial bricht sich der von José Luis Basso einstudierte Soldatenchor als Schlägertruppe Bahn. Zur Walpurgisnacht geht es zu Pferd über die Place Pigalle und in die über der brennenden Notre-Dame funkenstiebende Luft. Ein tolles Final-Terzett lässt Faust ein letztes Mal vergreisen, der Teufel will ihn nicht mehr. Als Frischfleisch zieht er sich Siebel hin zu den höllischen Büchern.
Szenisch ist diese Mischung aus konkreter Realität und spöttischer Magie aus einem gekonnten Guss. Man erinnert sich an die vitale Paris-Wirklichkeit von Clément Cogitores zeitgenössischer Rameau-Zurichtung Les Indes galantes am gleichen Ort. Und auch Lorenzo Viotti kann bei dieser Franco-Inkunabel klanglich mithalten. Man mag die Individualität einer eigensinnigen Lesart vermissen, aber er gebietet souverän über seine gewaltigen, dabei zwanglos entfesselten musikalischen Kräfte, setzt auf Schönklang, Subtilität, vorantreibende Balance. Ein entfetteter, jugendlich-sehniger Gounod. Pourquoi pas?
Gounod: Faust
TV-Aufzeichnung am 19. und 22. März 2021
Mskl. Leitung: Lorenzo Viotti, Regie: Tobias Kratzer, Ausstattung: Rainer Sellmaier, Licht: Michael Bauer, Video: Manuel Braun, Chor: José Luis Basso
Jean-Yves Cilot (alter Faust), Benjamin Bernheim (Faust), Ermonela Jaho (Marguerite), Christian van Horn (Méphistophélès), Florian Sempey (Valentin), Sylvie Brunet-Grupposo (Dame Marthe), Michèle Losier (Siebel), Christian Helmer (Wagner)
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