Im Florentiner Teatro del Maggio Musicale nutzte Intendant Alexander Pereira die Pandemie-Zwangspause dazu, das Programm des Hauses neu aufzustellen – und landete einen Treffer mit der Verismo-Ausgrabung Siberia von Umberto Giordano.
Von James Imam
[restrict role=“subscriber, customer“ page=“2164″]Mailands Verlust erweist sich als Gewinn für Florenz: Vor zwei Jahren schockte die Scala die Opernwelt mit ihrer Entscheidung, den Vertrag des tüchtig Sponsorengelder einwerbenden Intendanten Alexander Pereira nicht zu verlängern. Und zwar nachdem bekannt wurde, dass der österreichische Impresario einen Deal mit der saudi-arabischen Regierung ausgehandelt hatte, nach dem Kronprinz Mohammed bin Salman – zu der Zeit im Westen bereits Persona non grata aufgrund der Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi – dem Haus drei Millionen Euro hätte spenden sollen. Ein paar Monate später fand der Florentiner Maggio Musicale eine Anschlussverwendung für Pereira. Und während die Pandemie für fast anderthalb Jahre alle Live-Veranstaltungen stoppte, verlor der neue Intendant keine Zeit, das historische Festival zu einem Opern-Kraftzentrum auszubauen. Wo die meisten italienischen Häuser eher kurzsichtig agierten und auf leichtgewichtige, schnell auf- und umbaubare Produktionen mit wenigen Wochen Vorlaufzeit setzten, um sich an die ungewissen Umstände anzupassen, bereitete Pereira ein volles Drei-Monats-Programm vor mit interessanten Werken, ernsthaften Produktionen und Weltklasse-Musikern. Die Götter zeigten sich Florenz denn auch geneigt: Als die italienische Regierung am 26. April wieder Live-Veranstaltungen vor Publikum zuließ, war der Maggio Musicale startklar. Schon sechs Tage später präsentierte man Frederic Wake-Walkers Neuproduktion von Adriana Lecouvreur unter der Leitung von Daniel Harding – als Italiens erstes Opernhaus, das eine unabgespeckte Vorstellung vor Präsenzpublikum zur Aufführung brachte.
Eine herausragende Produktion dieses reichhaltigen Programms war auch Umberto Giordanos Siberia. Die Oper, einst geschrieben für die Scala und dort 1903 uraufgeführt, heutzutage freilich kaum je irgendwo im Programm, war zum ersten Mal in Florenz zu sehen – und die Produktion des Maggio Musicale ist ein starkes Argument für ihre Wiederentdeckung! Das Werk spiegelt die Russomanie, die zu seiner Entstehungszeit in Italien grassierte: Zahlreiche Hauptwerke der romantischen russischen Literatur erschienen damals in italienischer Übersetzung, mehrere Opern mit russischer Thematik – etwa Alfanos Risurrezione oder Giordanos Fedora – fanden den Beifall der Kritik. Luigi Ilicas Libretto nimmt direkten Bezug auf dieses Erbe, und zwar auf Tolstois Roman Auferstehung und Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhause: Leutnant Vassili tötet Fürst Alexis, in dessen Mätresse Stephana er verliebt ist, und wird daraufhin in ein sibirisches Arbeitslager verbannt. Stephana folgt ihm heimlich. Bei dem Versuch, mit Vassili zu fliehen, wird sie tödlich verletzt und stirbt in seinen Armen.
Bietet die Handlung nur Opernware von der Stange, leuchtet die Musik umso mehr, und das in tief russischen Farben. Giordano zitiert Tschaikowskys Ouvertüre 1812 ebenso wie russische Volksweisen, etwa das „Lied der Wolgaschlepper“. Im dritten Akt setzt Giordano eine Balalaika ein, ein Chor von Krämern, Hausierern, Kosaken und Soldaten erscheint vor dem Hintergrund des St. Alexander-Festes und am Osterabend. Zugleich bleibt die Partitur unverwechselbar veristisch, mit leidenschaftlichen stimmlichen Ausbrüchen, die in Passagen idyllischer Stille münden, die durchkomponierte Musik folgt einem natürlichen Ebben und Fluten.
Am Pult machte Gianandrea Noseda die Vitalität der Partitur ebenso lebendig wie die Grimmigkeit der russischen Klangwelt, ein Dirigat wie für ein Mussorgsky-Stück. Mit flackernden Gesten und intensivem, wachem Blick beschwor er eine sinnliche Orchesterleistung herauf, in einer Lesart voll kühner Kontraste, die allerdings gelegentlich die Sänger überdeckte. Der russische Choral in der Einleitung schwelte, die fesselnd trostlose Darstellung des sibirischen Arbeitslagers war peitschend und brodelnd. Nach zehn Jahren als Erster Gastdirigent am St. Petersburger Mariinsky-Theater, wo er Valery Gergiev über die Schulter schauen konnte, kennt Noseda sich mit dem lokalen Idiom aus.
Weniger stark hingegen Roberto Andòs Regie – was angesichts der Hauptleistung, nämlich einer Opernrarität zu szenischem Bühnenleben zu verhelfen, nur leicht ins Gewicht fällt. Der erste Akt beginnt in einem Mittelklasse-Haushalt, die Handlung ist aus der Zeit Alexanders I. (1777-1825) in die Sowjetunion der Stalin-Ära ausgelagert. Nach ein paar Minuten allerdings heben sich die Wände und eine Filmcrew, bewaffnet mit Videokameras, betritt die Bühne, die zum Filmset wird. Auf dem Papier mag das durchaus Sinn ergeben haben – veristische Oper mit ihren umgangssprachlichen Libretti und deskriptiver Musik als Vorläufer modernen Filmschaffens –, doch bleibt die Idee unterentwickelt und halbherzig, trotz der einen oder anderen prägnanten Szene: das visuell eindrucksvolle Arbeitslager im fallenden Schnee etwa oder der Moment im dritten Akt, wenn Stalins Antlitz zu den Osterworten „Christ ist erstanden!“ aufblitzt. Doch bleibt die Inszenierung größtenteils fad und uninspiriert.
Als beeindruckende Stephana führte Sonya Yoncheva die Besetzung an, stark im tiefen Register mit dem nötigen Verismo-Schneid, zugleich einnehmend mit leuchtenden Spitzentönen. Wie viele andere Werke Giordanos ist auch Siberia eine Tenor-Stolperfalle: Giorgi Sturua fehlte das stimmliche Gewicht, um Vassilis unerbittlich hohe Ausbrüche überzeugend stemmen zu können. Immerhin hielt er unversehrt bis zum Ende durch. George Petean war ein stimmschöner, volltönender Kuppler Gléby. Starke Leistungen kamen von Caterina Piva (als Stephanas Dienerin Nikona) und Giorgio Misseri (Fürst Alexis). Aufgeführt auf derartigem Niveau ist Siberia ein genussreiches Werk. Es wäre schön, mehr von dieser zu Unrecht vergessenen Oper Umberto Giordanos zu hören.
(Aus dem Englischen übersetzt von Jan Geisbüsch)
Giordano: Siberia
Premiere am 7. Juli 2021 (auch besuchte Vorstellung)
Mskl. Leitung: Gianandrea Noseda, Inszenierung: Roberto Andò, Bühne und Licht: Gianni Carluccio, Kostüme: Nanà Cecchi, Video: Luca Scarzella
Sonya Yoncheva (Stephana), Giorgi Sturua (Vassili), George Petean (Gléby), Caterina Piva (Nikona), Giorgio Misseri (Il principe Alexis), Caterina Meldolesi (La fanciulla), Antonio Garès (Ivan), Francesco Verna (Il banchiere Mischinsky), Emanuele Cordaro (Walinoff), Francesco Samuele Venuti (Il capitano), Joseph Dahdah (Il sergente), Alfonso Zambuto (Il cosacco), Adolfo Corrado (Il governatore), Davide Piva (L’invalido), Amin Ahangaran (L’ispettore)
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