Barrie Kosky rupft den Goldenen Hahn von Nikolai Rimski-Korsakow in Lyon, Daniele Rustioni sorgt für Pomp und Glanz im Graben.
Von Eleonore Büning
Öfters schon haben wir uns gefragt, ob Barrie Kosky nicht doch insgeheim ein Heiliger ist. Er verfügt über die Gabe der Bilokation: Wie Franz von Assisi taucht er an mehreren Orten gleichzeitig auf. Ganz besonders krass war das in den letzten Tagen des harten Lockdowns, als er in Hamburg (Agrippina) und in Wien (Macbeth) je eine Kooperationsarbeit auffrischte, während er in Lyon an der Neuinszenierung von Nikolai Rimski-Korsakows Le coq d’or werkelte.
[restrict role=“subscriber, customer“ page=“2164″]Die Premiere wurde zwar bestreikt, wie das in Frankreich auch jenseits der Pandemie-Ära immer wieder einmal vorkommen kann, aber sie fand letztlich dennoch statt. Allerdings nur als Quasi-Generalprobe. Außer dem Team von Serge Dorny, für den dies die letzte Lyoner Produktion war, nach zwölf lebhaften und höchst erfolgreichen Jahren der Intendanz, saßen nur einige wenige Kritiker im Saal, die aus Paris, der Schweiz und Deutschland angereist waren. Um es gleich zu sagen: Wir durften uns glücklich schätzen. Eine ganze Palette saftiger, russischer Stimmen war zu erleben, dazu eine typische Dorny-Produktion: musikalisch Eins A, thematisch erschütternd, szenisch streitbar. Kurzum: Eine rundum würdige Abschiedsparty, die noch einmal deutlich machte, was das Besondere an der Lyoner Dramaturgie gewesen war.
Rimski-Korsakows letzte Oper hat zwei Seiten: eine lustige, helle, banale, mit viel Bling-Bling. Und eine dunkle, eschatologische, bodenlos pessimistische. Einerseits handelt es sich um eine üppig mit Folklorismen garnierte Märchenoper nach einer klassischen Fabel von Puschkin, die, außerhalb Russlands, vor allem populär wurde dank der wunschkonzertabgetakelten Orchestersuiten, die teils von Rimski selbst, teils von seinen Schülern Glasunow und Steinberg daraus abgezogen wurden. Andererseits ist der Goldene Hahn eine Zeitoper. Eine scharf geschneiderte Satire, reich an bissigen Witzen und abgründigen Metaphern. Rimski-Korsakow reagierte damit im Jahr 1905 unmittelbar auf die politischen Zeitläufte, als der unfähige Zar Nikolaus II. am sogenannten Blutsonntag gegen das eigene Volk mehr Truppen mobilisierte, als zuvor im gesamten russisch-japanischen Krieg. Diese ihr einbeschriebene Janusköpfigkeit imprägniert nicht nur die puppenhaft surrealen Figuren der Oper. Sie setzt sich fort auch in der rastlos versatzstückhaften Partitur mit ihrer geradezu nervtötend demonstrativ ausgearbeiteten Leitmotivik. So stellt das Stück jedem, der es heute auf die Bühne bringen will, gleich zwei Gretchenfragen: Wie hält es die Inszenierung mit der Politik? Und wieviel Blattgold, Wodka, Schenkelklopfen und Russenkittel verträgt sie?
Barrie Kosky, der sonst keine Gelegenheit auslässt, um es krachen zu lassen, hat beide Fragen konsequent ignoriert. Er hat den Hahn buchstäblich gerupft und auf die drei Kernaussagen reduziert: Alle Mächtigen sind dumm, der Mensch ist schlecht, das Leben sinnlos. Schwarze Schatten liegen über dem surrealen Einheitsbühnenbild, das Rufus Didwiszus aus schmutziggrauen Sanddünen und zerzaustem Strandhafer gebaut hat. In dieser Wüste führt Zar Dodon einsame Selbstgespräche. Er geht in Unterhosen, als ein Kaiser ohne Kleider. Kummervoll spielt er Fußball mit den abgeschlagenen Köpfen der beiden Zarewitsche, die sich, aus purer Dummheit, zufällig gegenseitig umgebracht haben. Das Kriegspferd des Zaren ist, als er aufsitzen will, bereits ein Skelett, das nur noch auf der Stelle galoppiert. Sein Zauberhahn, Menetekel-Geschenk des Hofastrologen, klettert splitternackt auf einem toten Baum herum.
Nur einmal stieben zur Erinnerung ein paar goldene Federchen auf. Nur zweimal probt eine auf vier glitzernde Straps-Knaben ausgedünnte Chorusline den Cancan. Der restliche Chor des zaristischen Hofstaates, Bojaren und Volk, tönt entweder aus dem Off – oder er galoppiert durchs Gestrüpp als Schwarm schwarzmähniger Seepferdchen. Erst am Ende des zweiten Akts, als, angekündigt von gleißenden Orientalismen im Orchester, eine boshaft kichernde Prinzessin aus dem Osten auftritt und ein Loch in die Bühnenwand reißt, illuminiert so etwas wie der Schein opernhaften Glamours dieses bizarre Endspiel im Geiste Becketts.
Die Zarin von Schemacha ist gekommen, um den Zar zu bezirzen und den Untergang des Zarentums zu besiegeln. Sie trägt Brokat und Pfauenfedern, verwandelt sich aber, als sie ihren weiten Samtmantel abwirft, unübersehbar in eine halbseidene Diva aus den Goldenen Zwanzigern: ein Revuegirl, mit billiger Wasserwelle und Lametta. Fantastisch koloriert ihr chromatisch changierender Hymnus an die Sonne, endlos ihre Kantilenen der Verführung. Widerstand ist zwecklos.
Ursprünglich war Sabine Devieilhe für diese Paraderolle vorgesehen. Statt ihrer sprang Nina Minasyan ein, tadellos brillant, überwältigend farbensatt. Dmitri Uljanow ist ein klar artikulierender, kraftvoll-buffonesker Zar. Andrej Popov, mit seinem hohen, lyrischen Tenor derzeit der Astrologe vom Dienst, beeindruckt mit Spitzentönen, die die Grenze der Karikatur streifen. Margarita Nekrasova taucht als Amme des Zaren ihre Wiegenlieder in reifen Wohlklang. Maria Nazarova leiht dem Hahn-Tänzer für sein Kikeriki-Orakel unsichtbar, aber eindringlich, ihre zauberische Jungmädchen-Stimme. Und das Orchester der Lyoner Oper, mit seinen wunderweichen Holzbläsern, jubelnden Streichern und dem virtuos schneidend-klaren Blech, sorgt unter Daniele Rustioni für Pomp, Glanz und Klarheit, ja, für eine schier überschäumende Lebensfreude, die in allerschärfstem und schmerzhaftem Kontrast steht zu Koskys Bildern. Es ist, als müsse man ersticken an dieser Pracht, angesichts der Apotheose des Todes.
Am Ende sind sie alle tot. Zum Epilog trägt der Astrologe, ebenfalls zufällig erschlagen, seinen Kopf unter dem Arm. Dieser Kopf öffnet und schließt den Mund, er singt weiterhin fromme Lügen. Der tote Baum leuchtet, die Amme hat sich in einen fetten Nachtfalter verwandelt. Und der Hahn? Er ist entflogen, nachdem er dem Zaren die Augen ausgepickt und die Augäpfel verschlungen hat, mit einem zufriedenen Rülpser. Das ist lustig. Schrecklicherweise. Im Juli soll dieser überraschend heilignüchterne Goldene Hahn in Aix-en-Provence noch einmal gezeigt werden, später weiterwandern an die Komische Oper. Hoffentlich wird er in Serie gehen und noch drei Dutzend Mal gespielt, vor reichlich Publikum, live.
Rimski-Korsakow: Der goldene Hahn
Premiere am 20. Mai 2021 (auch besuchte Vorstellung)
Mskl. Leitung: Daniele Rustioni, Inszenierung: Barrie Kosky, Bühne: Rufus Didwiszus, Kostüme: Victoria Behr, Licht: Franck Evin, Choreografie: Otto Pichler, Chor: Roberto Balistreri
Dmitri Uljanow (Zar Dodon), Nina Minasyan (Königin von Schemacha), Andrej Popov (Astrologe), Margarita Nekrasova (Amelfa), Mischa Schelomianski (General Polkan), Andrej Zhilikhovsky (Zarewitsch Afron), Vasili Efimov (Zarewitsch Gwidon), Maria Nazarova (Stimme des Goldenen Hahns), Wilfried Gonon (Goldener Hahn)
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