Seit drei Spielzeiten ist Sophie de Lint Direktorin der Niederländischen Nationaloper Amsterdam. Im Interview spricht sie über Rassismus und sexuelle Übergriffe im Opernbetrieb, die Bedeutung der kolonialen Vergangenheit der Niederlande für die Institution Oper und wichtige Experimente in Zeiten der Pandemie.
Interview: Uwe Friedrich
Die calvinistischen Niederlande haben keine jahrhundertlange Operntradition, die Amsterdamer Oper heißt erst seit kurzer Zeit „Nationaloper“. Welche Aufgabe hat Ihr international ausgerichtetes Opernhaus in der niederländischen Musiklandschaft?
[restrict role=“subscriber, customer“ page=“2164″]In Deutschland hat jede größere Stadt ein Opernhaus, während in den Niederlanden nur drei Kompanien staatliche Subventionen erhalten. Neben der Amsterdamer Oper sind das die Reisopera und die Opera Zuid, die beide ähnlich wie die deutschen Landestheater verschiedene Theater bespielen. Wir sind die größte subventionierte Kulturinstitution in den Niederlanden, und ich stelle mir deshalb täglich die Frage, wem die Oper gehört und für wen wir unsere künstlerische Arbeit leisten. Wir möchten eine Oper für alle Bevölkerungsgruppen und alle Altersschichten sein. Das sind wir noch nicht, aber wir sind auf dem Weg. Diese Frage habe ich mir, ehrlich gesagt, als Operndirektorin in Zürich nicht so oft und nicht so deutlich gestellt. Meine Einstellung hat sich in diesem Land sehr verändert.
Die Amsterdamer Oper wird von drei gleichberechtigten Direktoren geführt. Das klingt nach vielen Teamsitzungen und großem Abstimmungsbedarf. Ist das ein Gegenmodell zum gottgleichen Generalintendanten, der in Deutschland gerade in die Diskussion gekommen ist?
Es gibt einen General Director, einen Ballettdirektor und mich, die Operndirektorin. Wir müssen einfach ein gutes Team sein, sonst klappt die Zusammenarbeit nicht. Wir stehen in ständigem Austausch und fassen Beschlüsse gemeinsam. Das ist manchmal etwas komplizierter, als wenn man allein entscheiden könnte. Aber ich halte es für einen großen Vorteil, denn wir müssen immer auch an die Belange der anderen denken. Da baut man ganz automatisch ein gutes Kommunikationssystem, um Reibungsverluste zu verhindern, und man wägt schon im Vorfeld seine eigenen Argumente gegen mögliche Einwände der anderen ab. Früher haben das Ballett, das aus historischen Gründen von der Stadt finanziert wird, und die Oper, die vom Staat finanziert wird, eher nebeneinander existiert. Jetzt planen wir gemeinsam neue Projekte.
Die vergangene Spielzeit wurde von der Pandemie zerschlagen. Was haben Sie in den den Monaten neu und anders machen müssen?
Es war plötzlich unmöglich, große internationale Oper auf die Bühne zu bringen. Also konnten wir uns ganz auf die Künstlerinnen und Künstler in den Niederlanden konzentrieren. Ich habe dann entschieden, unsere Bühne als Freiraum jungen Theatermachern zur Verfügung zu stellen. Sie hatten die Aufgabe, uns von ihren künstlerischen Ideen zu überzeugen, dafür haben sie unsere Ressourcen bekommen. Diese Reise hat vor einem Jahr begonnen, und ich habe sehr viel Neues erfahren. Natürlich arbeiten wir auch in Zukunft mit internationalen Künstlern, wir werden große Opern des Kernrepertoires spielen, das geben wir nicht auf. Aber wir hatten nun die Zeit, über neue Formen und neues Publikum nicht nur nachzudenken, sondern auch neue Formen zu entwickeln.
Hat davon auch die Online-Version des Festivals Opera Forward profitiert?
Von meiner geplanten ersten Spielzeit in Amsterdam ist nichts übriggeblieben, auch Opera Forward musste komplett umgeplant werden. Wir haben Künstlerinnen und Künstler aus anderen Disziplinen eingeladen, mit uns zusammenzuarbeiten. Wir haben zum Beispiel von Kurt Weill Die sieben Todsünden aufgeführt mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Eva-Maria Westbroek. Inszeniert wurde das von Ola Mafaalani, dazu haben wir den Leiter des Brainwash-Festivals geholt, der Spoken-Word-Artists eingeladen hat, sich mit dem Stück zu beschäftigen und ihre parallele Version der Todsünden zu schaffen. Das war ein aufregendes Projekt für beide Seiten, durch das wir auch ein vollkommen neues Publikum gewinnen konnten. In den vier Tagen des Festivals hatten wir etwa 30.000 virtuelle Besucher, von denen etwa 60 Prozent vorher nichts mit der Oper zu tun hatten. Nun müssen wir schauen, wie wir das fortsetzen.
Bei Opera Forward waren einige sehr gelungene Projekte dabei, einige fand ich eher verunglückt. Wieviel Risiko gehen Sie ein, nicht nur bei Festival-Experimenten?
Natürlich muss nicht jede Produktion jeden Zuschauer in gleicher Weise ansprechen. Gerade wenn die Meinungen sehr stark auseinander gehen, entstehen interessante Diskussionen darüber, warum man etwas gelungen oder auch misslungen findet. Ich möchte jeden ermutigen, seine eigene Meinung zu haben und zu äußern. Wir hatten viele Podiumsdiskussionen, und es gab die Frage, ob da wirklich nur die jungen Künstlerinnen und Künstler teilnehmen sollen oder auch gestandene Opernexperten. Ich fand es sehr lehrreich, nicht nur Experten auf dem Podium zu haben, die seit Jahrzehnten wissen, wie man es vermeintlich richtig macht, und die dann allen anderen erklären, warum sie das besser beurteilen können als jeder andere. Die Teilnehmer der Podiumsdiskussionen haben vielleicht nicht das Vokabular, das wir pflegen, sie haben vielleicht noch nicht so viele Opern gesehen wie wir, aber darauf kam es gar nicht an. Es war beeindruckend, wie sie sich ungestört von uns Besserwissern das Opernhaus und die Kunstform eroberten.
Die Niederlande haben eine koloniale Vergangenheit, die auch deutlich im Straßenbild sichtbar ist. Sowohl in den Denkmälern der Kolonialherren, im alten Reichtum der Stadt Amsterdam, aber auch in der multiethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung. Diese Vergangenheit und der Umgang mit den nichtweißen Niederländern werden in jüngster Zeit stärker thematisiert. Wie verhält sich die Oper in dieser Diskussion?
Wir stehen da, wie das gesamte Land, am Anfang einer langen Reise. Es gibt offensichtlich einen großen gesellschaftlichen Reichtum, der bislang nicht in Kontakt mit der Oper gekommen ist. Es wäre falsch zu glauben, dass wir jemanden einfach mit unserer Kunstform beglücken sollen, und dann ist alles gut. Wir wollen eine Annäherung und einen Austausch. Wir müssen uns kennenlernen, beide Seiten müssen von der Zusammenarbeit bereichert werden. Wir gehen in die Stadtteile von Amsterdam und arbeiten dort gemeinsam mit Künstlern vor Ort. Das hat bei Opera Forward begonnen und wir jetzt fortgeführt. Wir sind auf einem Weg, der nicht direkt zum Ziel führen wird. Wir werden Umwege machen, vielleicht auch den einen oder anderen Irrweg beschreiten, aber mir ist im Moment der Weg wichtiger als das Ergebnis. Entscheidend ist, dass wir uns austauschen. In den vergangenen Monaten habe ich oft gehört, das ist „dein Theater“ oder „wenn wir in deinem Theater sind“. Aber es ist nicht mein Theater, es ist gemeinsamer Besitz aller, die hier leben. Das Amsterdamer Opernhaus gehört zum Gebäudekomplex des Rathauses, deshalb wird es von vielen nichtweißen Niederländern als Teil der Staatsmacht wahrgenommen. Diese Vorbehalte verstehe ich, und wir arbeiten daran, sie zu zerstreuen.
Rassismus und Sexismus finden auch an Opernhäusern statt, schließlich sind auch sie Teil der Gesellschaft und keine Inseln mit moralisch unanzweifelbaren Bewohnern. Wie gehen Sie damit um?
Machtmissbrauch, aber auch sexueller Missbrauch scheint leider schwer zu beseitigen zu sein. Wichtig ist, wie damit umgegangen wird. Es darf kein Klima mehr geben, in dem das als akzeptabel gilt. In einem hierarchischen System, das auf Angst und Schrecken beruht, trauen sich die Opfer oft nicht, dagegen zu protestieren. Mir ist wichtig, dass sich Betroffene entweder an mich direkt wenden können oder an Vertrauenspersonen im Opernhaus. Es ist wie bei der Intendanz eines Hauses: Wenn die Kontrollmechanismen funktionieren, kann in solchen Situationen schnell und effektiv eingegriffen werden, auch im künstlerischen Bereich.
Bei diesen gesellschaftspolitischen Diskussionen sehen viele konservative Opernfans die Gefahr der Vernachlässigung des konventionellen Repertoires. Kümmern Sie sich überhaupt noch ausreichend um das bürgerliche Opernpublikum?
Selbstverständlich pflegen wir auch die Tradition. Aufführungen des klassischen Opernrepertoires sind unser Auftrag, und das nehmen wir sehr ernst. Ab der kommenden Spielzeit ist Lorenzo Viotti unser Chefdirigent, der selbstverständlich auch Verdi, Puccini und Wagner dirigieren will. Der Großteil unserer Aufführungen besteht aus den Meisterwerken der Musikgeschichte, aber es muss auch Platz für Neues geben, für Experimente auf der Hauptbühne. Wir wollen die Kunstform weiterentwickeln, sowohl im klassischen Sinn mit Orchester im Graben, Sängern auf der Bühne und einem Vorhang, der sich feierlich öffnet. Aber Oper ist schon lange nicht mehr nur die Reproduktion des seit Jahrhunderten Bewährten.
Sophie de Lint ist seit der Spielzeit 2018/19 Direktorin der Niederländischen Nationaloper Amsterdam. Sie wurde in Rotterdam geboren, machte ihr Abitur in Genf und studierte dort parallel zur Schule Geige. In Genf und Zürich studierte sie Business Administration und Arts Administration. Sie arbeitete als Regieassistentin an verschiedenen Opernhäusern und Festivals, war persönliche Referentin der Genfer Intendantin Renée Auphan sowie Künstleragentin in Wien und Zürich. Von 2012 bis 2018 war sie Künstlerische Leiterin am Opernhaus Zürich. Sophie de Lint ist Jurymitglied bei zahlreichen internationalen Gesangswettbewerben.
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