Das Opernfestival in der Arena di Verona feiert in diesem Jahr sein 100-jähriges Jubiläum. Wie bei der Erstausgabe steht auch in diesem Sommer Verdis Aida auf dem Premierenprogramm.
Von Ulrich Ruhnke
Sie sind ein Traumpaar seit 1913: Verdis Aida und die Arena di Verona. Auf keine andere Bühne scheint dem allgemeinen Verständnis nach der Triumphmarsch besser zu passen als auf die des römischen Amphitheaters in Verona. Auch wenn in dem Werk die leisen und intimen Momente überwiegen – einmal die große Siegerparade hier zu erleben, das lässt auch Interessierte außerhalb der üblichen Opern-Bubble der nur scheinbar elitären Kunstform eine Chance geben.
Da Kriegs- und Pandemiejahre festivallos übersprungen wurden, feiert man in Verona erst in diesem Jahr den 100. Festivaljahrgang. Großformatig, wie es sich für die vielleicht bekanntesten Opernfestspiele der Welt gehört, und in der Premiere staatstragend, wie es die Italiener lieben. Dazu zählt selbstverständlich das inbrünstige Singen und Mitsingen der Nationalhymne durch den in die nationalen Farben gekleideten Chor sowie des stehenden Publikums (man möge sich die Situation etwa bei den Bayreuther Festspielen vorstellen!), die Ehrenrunde der Frecce Tricolori, Italiens Kunstflugstaffel, über der Arena, sowie der Einzug der ältesten lebenden Filmikone des Landes, der 88-jährigen Sophia Loren, die sich im Schneckentempo zu einer der ersten Zuschauerreihen vorarbeitete. Kaum dort angekommen fielen drei, maximal vier Tropfen Regen, was die Diva veranlasste, mit Schirm ihren Platz wieder zu verlassen. Das Orchester tat es ihr gleich, kam aber nach einer halben Stunde zurück. Sophia ebenso. Um 21.30 Uhr startete die Vorstellung.
Mag das Opernfestival von Verona auch als Hort konservativen Inszenierungsgeschmacks gelten, so ist es doch keineswegs so, als habe man sich der Neuzeit stets verweigert. Es gab u.a. eine Aida von Fura dels Baus, doch das zahlende Publikum, bei abendlich 12.000 zu verkaufenden Plätzen hier vielleicht wichtiger als irgendwo anders, goutierte die Arbeit nicht (früher waren es 20.000 Karten, doch die Bereiche direkt oberhalb der Bühne werden nicht mehr angeboten). Gerade einmal drei Jahre wurde sie gespielt, dann holte man die alte Inszenierung von Franco Zeffirelli wieder aus dem Fundus. Sie lief bis letztes Jahr und ist auch heute noch nicht entsorgt. Man geht auf Nummer sicher in Verona. Gleichwohl, eine neue Aida musste es zum Jubiläum dann schon sein, und mit Stefano Poda hatte man einen Landsmann engagiert, der in seinen Arbeiten stets für Inszenierung, Bühne, Kostüme, Licht und sogar die Choreografie selbst sorgt. Bei einer Arena-Aida mit etwa 400 Mitwirkenden und 4.000 Kostümen hat man da gut zu tun. Allein die Logistik ist bestenfalls mit der wundersamerweise funktionierenden Systematik eines Ameisenhaufens zu vergleichen.
Wer sich bis zum Ende der Festspiele im September in dem viel zu engen, heillos überfüllten und mit tausendfachen Fußangeln und halsbrecherischen Treppen lauernden Backstagebereich nicht die Knöchel gebrochen hat, dem gebührt ein eigener Siegeszug. Einschließlich der Solisten, denen hier, und seien sie noch so berühmt, dieselben mikroskopisch kleinen, stickigen Bretterverschlägen zur Umkleide bereitsteht wie allen anderen auch. Wer glaubt, Bayreuth fordere das Maximale von seinen Künstlern, der war noch nie in der Arena! Selbst für den Zuschauer ist es im Fränkischen deutlich kommoder. Auf den veronesischen Steinstufen mag man sich ja noch breit machen können, auf den kindergartensitzgroßen Klappsitzen der teuren Preisklassen ließe es sich selbst ohne Beine und Arme nur leidend aushalten.
Es gehört zur bemerkenswerten Magie der Arena, dass sie all solche Unannehmlichkeiten vergessen macht, und das nicht nur mit großen Schaueffekten, sondern unerwartet mit den zarten, zerbrechlichen Momenten und leisen Tönen. Anna Netrebko, Aida-Titelinterpretin in diesem besonderen Jahr, hat genau hier ihre Stärke, schickt betörende Piani ins große aufmerksame Rund, bereitet aber weit mehrheitlich mit ihrer breiten, ganz auf Volumen getrimmten und nur schwer beweglichen Mittellage einigen Verdruss. Der Radamès von Yusif Eyvazov, Netrebkos Ehemann, hat mehr Kern, aber es fehlt ihm die Fähigkeit zum Diminuendo. Durchgängig am überzeugendsten zeigt sich Olesya Petrova. Ihre Amneris hat trotz einiger Schärfen eine starke Mitte und einen erheblichen Impact in der Höhe, Roman Burdenko ist ein eindrucksvoller Amonasro und Marco Armiliato am Pult sorgt für die richtige Balance.
Wer in Verona nach Pyramiden sucht, wird auch im Jahr 2023 nicht enttäuscht und findet sie als Licht-Dom im nächtlichen Himmel über sich, die Arena als Architekturbasis klein unter sich lassend, spektakulär, aber nicht immer ganz sichtbar, da die Lichtkegel sich oft verlieren und die krönende Silberkugel, die nichts anderes ist als ein angemalter kleiner Fesselballon, vom sanften Nachtwind aus seiner zentralen Position gepustet wird. Macht nichts. Pompös ist es auch so.
Regisseur Stefano Poda ist ein Ästhet, schwarzweiße Optik mit wenigen starken Farbakzenten sein bewährtes Muster, das auch in der Arena bestens funktioniert. Glitzerkostüme, ein bisschen nackte Haut, eine zerbrochene korinthische Riesensäule auf der einen, ein zerborstenes Raumschiff auf der anderen Seite des Riesenrunds, die Zeitlosigkeit kriegerischen Handelns und Leidens dazwischen. Die Zeichen stehen gut, dass die Produktion weit länger gezeigt wird als die letzte Aida-Neuinszenierung von Fura dels Baus.