Bei Waltraud Meiers letztem Auftritt gehen unserem Autor viele Erinnerungen durch den Kopf. Für ihn endet ein Lebensabschnitt. Über die Macht, die Sängerinnen und Sänger haben können.
Von Matthias Kreienbrink
Mein Vater hätte wohl neben mir gesessen. Wochen zuvor hätte er mir eine Nachricht geschickt: „Matthes, bald ist Waltraud Meiers letzter Auftritt.“ Wir hätten uns wohl Tickets besorgt und er wäre extra dafür nach Berlin gekommen. Vier Stunden Fahrt hin und direkt danach wieder zurück. Auch wenn wir nur nebeneinander da im Dunkel gesessen hätten: Es wäre ein weiteres gemeinsames Erlebnis gewesen. Eines der wenigen. Aber mein Vater lebt nicht mehr – er war nur in Gedanken bei mir, als Waltraud Meier mit ihrer Klytämnestra in der Staatsoper Berlin Abschied von der Bühne nahm.
Zugang zur Oper zu finden ist nicht einfach. Bis man „sein“ Stück gefunden hat, das einen wie ein Torbogen hineinführt in diese Musik, können Jahre vergehen. Oder es passiert einfach nie. Zu sperrig wirkt die Oper, zu überfrachtet und überfordernd. Manchmal aber kann es auch ein Sänger oder eine Sängerin sein, die einen sprichwörtlich an die Hand nimmt und einem die Tür aufstößt. Für mich war das Waltraud Meier. Und mit ihrem letzten Auftritt schließt sich auch für mich ein Lebensabschnitt.

Begonnen hat der vor gut zehn Jahren. Ich saß mit Mitte 20 in meiner ersten Wagner-Oper. Vorher hatte ich mir vor allem den Tannhäuser auf CD angehört. Ich fand das schon gut. Aber da fehlte noch irgendwas. Durch mein Studium der Älteren Deutschen Literatur war ich am Ring des Nibelungen interessiert. Die vielen Charaktere und ihre Aventuiren. Kurzum kaufte ich mir eine – für meine damalige Verhältnisse viel zu teure – Karte für Die Walküre in der Staatsoper, damals noch im Schillertheater.
Ich erinnere mich noch gut an die Fahrt nach Hause. Zwei Dinge gingen mir in der U-Bahn durch den Kopf: die letzten Töne der Oper, dieses seltsam fröhlich-melancholische Ausklingen. Und diese Frau da auf der Bühne, die die Sieglinde gesungen hat. Sie war irgendwie anders als die anderen. Elektrisierend, so eindrücklich in ihrer Darstellung und ihrem Gesang. Ich erfuhr ihren Namen erst, als ich im Nachhinein die Besetzung googelte. Wenige Tage später saß ich wieder in der Walküre. Ich wollte das nochmal erleben.
Seitdem habe ich Waltraud Meier in vielen Aufführungen gesehen. Ihre Isolde, ihre Kundry, Ortrud, Waltraute und eben die Klytämnestra. Immer war dieses Elektrisierende da.
Ein Video, hunderte Mal gesehen
Dabei war es eigentlich ein Video, das mir den letzten Stoß gegeben hat. Eine Aufnahme aus München, Waltraud Meier singt Isolde. Die Nahaufnahme auf ihr Gesicht zeigt, wie sich jede einzelne Emotion darauf spiegelt. Hunderte Male habe ich mir dieses Video über die Jahre angesehen, habe es Menschen geschickt, in der Hoffnung, dass sie darin das Gleiche sehen würden wie ich. Nur dass ich nie ganz beschreiben konnte, was es eigentlich genau ist.
So fand ich meinen Zugang zu Tristan und Isolde – durch die letzten zehn Minuten. Danach wagte ich mich daran, die gesamte Oper zu hören. Fand überall Melodien des Liebestodes, wie kleine Erinnerungen, worauf das alles hinausläuft: auf dieses Ende. Noch heute ist es der Tristan, der mich, neben dem Parsifal, so bewegen kann wie keine andere Musik. Und den Eingang habe ich beide Male durch Waltraud Meier gefunden.
Es ist nicht die Privatperson, die mich interessiert. Dankenswerterweise gibt sie ja auch nur wenig von sich bekannt. Ja, ich habe viele Interviews gesehen und gelesen. Aber sie waren vor allem Anstöße, anders und gründlicher über die Musik nachzudenken, die ich da ständig höre. Vor allem aber war es die Figur, die durch sie auf der Bühne stand, die mich interessierte. Wie sie mit einer gehobenen Augenbraue, einer zögerlichen Bewegung ihres Arms einen Charakter erschaffen konnte, der innerhalb wie auch außerhalb der Musik zu leben schien.
Vor sieben Jahren dann konnte ich Waltraud Meier selbst interviewen. Eine gute Stunde saß ich ihr im Schillertheater gegenüber und sprach über ihren letzten Auftritt als Kundry. Aus dem Interview wurde ein Gespräch. Zwischen zwei Menschen, die sich einige Gedanken über Musik und ihre Wirkung gemacht haben. Ich erzählte ihr nicht von dem Video, das ich hunderte Male gesehen hatte.
Dem Vater etwas beibringen
Waltraud Meier war aber auch eine der wenige Verbindungen, die ich zu meinem Vater hatte. Ein distanzierter Mann, der auch seine Kinder nicht an sich heranließ. Seine Gefühle versteckte er so gut, dass er sie vielleicht selbst gar nicht mehr finden konnte. Aber er hatte die Musik – und da ganz besonders Wagner.
Seit ich Kind bin, kenne ich diese laut aufgedrehten Klänge aus seinem Zimmer. Hojotoho schallte es da – und es war klar, dass Papa gerade nicht gestört werden will. Doch genauso war diese Musik eines der Dinge, die mein Vater mir mitgeben wollte. Er empfahl mir, mit dem Tannhäuser anzufangen. Und er hörte mir wiederum zu, als ich ihm von dieser Sängerin mit dem tollen Ausdruck erzählte. So war ich, der Sohn, es einmal, der ihm etwas beibringen konnte.
Im Juli 2015 fuhren wir dann zusammen nach München. Er hatte zwei Karten für den letzten Auftritt Waltraud Meiers als Isolde gekauft. Wir verbrachten den Tag zuvor zusammen in der Stadt. Steckten die Füße in die Isar, liefen durch den Englischen Garten, saßen in Cafés – und redeten über Wagner. Nach der Aufführung saßen wir noch in einem Restaurant. Diesmal wussten wir beide nicht so recht, was wir sagen sollten. Ihre letzte Isolde wird für immer in meinem Gedächtnis bleiben.

2020 ließ ich mir ein Tattoo von Waltraud Meier stechen. Das Bild (r.) hing seit Jahren in meiner Wohnung. Wieder war es nicht die Privatperson, die ich da auf meinem Körper haben wollte. Sondern diese vielen Erinnerungen und Empfindungen, die sich in den vielen Jahren wie Patina in mir festgesetzt hatten. Und es war der Ausdruck dieses Gesichts, den ich auf meiner Haut verewigen wollte.
Waltraud Meier war, ohne dass sie es wahrscheinlich je wissen wird, die Sängerin, die mich an die Hand genommen hat, um mir eine ganze Welt an Musik zu zeigen, die ich sonst nie so gesehen hätte. Sie hat mir Momente gegeben, die jetzt ein Teil von mir sind. Und durch sie habe ich viele Erfahrungen gemacht, die mich geprägt haben. Viele Opernabende, Gespräche oder Lektüren. Und eben eine Verbindung zu meinem Vater, die sonst nicht so da gewesen wäre.
Im Juni dieses Jahres ist er plötzlich verstorben. So, wie er auch gelebt hat: mit wenigen Worten. Ende Oktober sitze ich also wieder in der Oper. Wieder in der Staatsoper. Nun nicht mehr im Schillertheater. Wieder habe ich mir einen der teuren Sitze geleistet. Wie vor den gut zehn Jahren, als ich sie zum ersten Mal sah.
Die vielen Auftritte, die ich miterlebt habe, gehen mir durch den Kopf. Auch die, bei denen mein Vater neben mir saß. Am Ende bedankt sich Waltraud Meier beim Publikum – und mir kommen die Tränen. Es ist ja doch ein Abschied. Von ihr und dem, was sie auf die Bühne gebracht hat. Aber eben auch ein Abschied von einem Stück meines Selbst. Von einer Zeit, in der Meier mich an die Hand genommen hat. Jetzt muss ich den Weg durch die Musik wohl selbst finden.