Zur Eröffnung der Internationalen Maifestspiele wagt sich das Hessische Staatstheater Wiesbaden an Jörg Widmanns Monumentaloper Babylon. Ein wahrlich sperriges, alles andere als unproblematisches Stück. Die Leistungsschau des Hauses aber fällt blendend aus.
Von Stephan Schwarz-Peters
Nein, Babylon macht es einem wirklich nicht leicht. Mit seinem 2012 in München uraufgeführten, nach Revision 2019 in Berlin gezeigten Opernkoloss hat Jörg Widmann der Welt ein echtes Problemstück vor die Nase gesetzt, das alles zeigt und alles will, von Schöpfung, Tod und Liebe erzählt, von Gott und Religion, Unterwelt und Überwelt – eben der ganz große Aufriss, in einer Stoff- und Erzähldichte, die Wagner mindesten auf drei Abende aufgeteilt hätte, Widmann aber in sieben Bildern und knapp drei Stunden (mit Pause) abhandelt. Vielschichtig wie die Handlung, deren Herkunft aus der vorbiblischen, zwischen Euphrat und Tigris beheimateten Mythologie bereits der Titel verrät, ist auch die Musik. In ihr lebt sich der Komponist schwelgerisch aus, schichtet Sphäre um Sphäre in unterschiedlichen Stilen übereinander und entfesselt einen Orchesterklangzauber, der in babylonischer Vermessenheit wohl alles, was bislang auf diesem Gebiet erreicht wurde, in den Schatten stellen soll. Wahrlich: Widmann beherrscht sein Metier. Oder beherrscht es ihn?
Bei aller Verwirrung – dem sprichwörtlichsten aller babylonischen Motive – fasziniert das Stück, gerade weil es auf so schillernde und ehrlich Art scheitert; ehrlich deshalb, weil hier ein Vollblutkomponist am Werk ist, dem man die Ernsthaftigkeit beim Ringen mit der Materie abnimmt. Hier stehen packende Stellen wie das in beeindruckender Schwärze gemalte Vorspiel zum fünften Bild neben grotesk heraufbeschworenen „lustigen Holzhackerbuam“ beim Götterkarneval; unter die Haut gehende intime Zwiegesänge verwandeln sich in Operettenschwulst: „Dein ist mein ganzes Herz“ mit falschen Noten, man meint fast, Schmalzschlieren die Proszeniumsloge herunterschmieren zu sehen So prominent der Librettist, so abgeschmackt ist das Pathos, das er bemüht. Hochtrabend wie aus dem 19. Jahrhundert (vor Christus!) menetekelt Peter Sloterdijk Phrasen vor sich her, die selbst den Schöpfern des Gilgamesch-Epos altbacken erschienen wären, und vor allem eines vor Augen führen: Ein Dichterphilosoph wie Nietzsche ist er nicht.
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