Der Tenor Cyrille Dubois hat sich einen Namen gemacht als Spezialist für Raritäten. Im Interview spricht er über die Besonderheit eines ténor de grace, den Link zwischen den Generationen und über seine anstehenden Projekte.
Interview: Eleonore Büning
Sie sind der neugierigste Tenor ever: ein wahrer Spezialist für Wiederauferstehung. Sie reanimieren vergessenes, verloren gegangenes Repertoire, unbekannte Barockopern, verschüttete Operettenarien, Belcanto-Raritäten. Oder Sie entdecken einen Komponisten des 20. Jahrhunderts, mit dem auf dem Musikmarkt kein Blumentopf zu gewinnen ist. Was treibt Sie an?
Das hat, glaube ich, damit zu tun, dass ich meine ersten Erfahrungen als Knabensopran gemacht habe. Mit sieben kam ich an die Maîtrise de Caen, da wurden wir großartig gefördert! Einen halben Tag lang hatten wir Chorprobe, in der zweiten Tageshälfte gingen wir ganz normal zur Schule. Im Alter von zehn bis 14 Jahren gaben wir jede Woche ein Konzert. Dafür wurde Woche für Woche neues, unbekanntes Repertoire einstudiert. So etwas prägt! Den Appetit auf das Unbekannte habe ich bis heute nicht verloren.
Was ist leichter und was ist schwieriger für einen Interpreten: Etwas Neues zu performen, das man sich erst erarbeiten muss? Oder Standardrepertoire zu singen, wozu es jede Menge mehr oder weniger großartige Vorbilder gibt?
Natürlich singe ich auch Dinge, die zum klassischen Kanon gehören. Aber wenn ich die Wahl habe, gebe ich lieber dem Neuen eine Chance, das ich noch nicht kenne…
[restrict role=“subscriber, customer“ page=“2164″]…und sind dann, wie bei Uraufführungen auch, der Erste, der Maßstäbe setzen kann!
Nein, nein, so einfach ist das nicht! Ich singe das einfach auf meine Art, so authentisch wie möglich und dicht am Text. Aber das Gute ist: Wenn man Neues singt, gibt es keine festgefügte Erwartung im Publikum. Meine Erfahrung ist, dass die Leute viel besser zuhören, wenn sie weitgehend unbeeinflusst sind, sozusagen befreit von den Standard-Hörgewohnheiten.
Sie haben sich schon quer durch die Musikgeschichte gesungen, von Rameau bis Schubert, von Donizetti bis Fauré, bis hin zu zeitgenössischer Musik. Das setzt eine enorme stilistische Vielseitigkeit voraus. Trotzdem erkennt man Ihre Stimme jedes Mal sofort. Wie machen Sie das?
Es ist ein Riesenunterschied, ob man beispielsweise Belcanto-Oper singt oder Lied. Die Stimme ist zwar dieselbe, aber man hat eine andere Reichweite, das wirkt sich aus auf Präsenz und Intensität. Gerade die Zerbrechlichkeit der Stimme in einem Liederabend ist aber ihre eigentliche Stärke. Nicht alle können da mitgehen. Genau das ist es aber, was ich am Lied so liebe. Hinzu kommt, dass für alle Interpreten heutzutage, nicht nur für uns Sänger, sozusagen mit einem Klick, sämtliche stilistischen Möglichkeiten aus den vergangenen Jahrhunderten abrufbar sind. Es ist ja einerseits eine gute Sache, dass wir uns jederzeit im Internet die Lesart von berühmten Sängern anhören und davon lernen können. Andererseits ist es umso schwieriger, einen eigenen Weg zu finden, um etwas wirklich authentisch darzustellen. Aus der Musik heraus das richtige Gefühl dafür zu entwickeln, wie etwas zu singen ist, das ist meine Utopie.
Für Ihr Arien-Album „So Romantique“ haben Sie vor kurzem den OPER! AWARD gewonnen, als bestes Soloalbum des Jahres 2023. Die CD ist in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto Bru Zane entstanden, eine Huldigung an das selten gewordene Stimmfach des französischen ténor de grace. Was halten Sie von den traditionellen Stimmfächern? Ist so eine Kategorisierung notwendig und sinnvoll? Kann sie auch schädlich sein?
Ich liebe die Bezeichnung ténor de grace, ich mag die Leichtigkeit und die Poesie, die darin mitschwingt. Ich erkenne die Tatsache an, dass wir kategorisiert werden müssen. Wir haben jeder bzw. jede unsere eigenen Jobs zu machen mit unserer Stimme und sollten daher auf sie hören. Aber wir dürfen darüber auch nicht vergessen: Es gibt Verbindungslinien zwischen all den Musikstilen, die die Musikgeschichte hervorgebracht hat. Zwischen dem Ende der Barockzeit und dem Beginn der klassischen Ära liegen vielleicht nur 100 Jahre oder weniger. Zwischen Klassik und Romantik liegen nur 50 Jahre. Klar, die Räume wurden größer, das Publikum wuchs, die Instrumente entwickelten sich, und die Sänger mussten sich danach richten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die menschliche Stimme und die Art zu singen von einer Epoche zur anderen so stark verändert haben sollen. Sänger, die mit Rameau groß geworden waren, wurden Lehrer von Gluck, es gibt diesen Link zwischen den Generationen. Man sollte also die Einteilung in Stimmfächer und was man demnach singen darf und was nicht, keineswegs allzu sklavisch ernst nehmen.
Und wie würden Sie selbst Ihre Stimme kategorisieren? Aus Ihnen wird wahrscheinlich nie ein Wagner-Tenor werden…
Ja doch, den Steuermann, den würde ich gerne mal singen! (lacht) Auch Wagner hat für leichte Tenöre geschrieben. Ich denke, das bin ich: ein leichter, lyrischer Tenor. Ich habe kürzlich Idamante gesungen. Auch Tamino, Ferrando, Ottavio aus Mozarts Opern. Das passt. Aber weiter will ich nicht gehen. Ich muss sagen: Ich arbeite schon hart daran, die Frische und Leichtigkeit meiner Stimme zu bewahren, solange ich das kann. Man wird älter.
Lyrische Tenöre klingen immer jung. Oftmals jünger als sie sind. Ihre Neueinspielung der Winterreise von Schubert macht den Eindruck, dass da ein vom Vormärz geprägter, zorniger junger Mann sich aus der Gesellschaft entfernt. Sie singen das fast völlig akzentfrei. Sprechen Sie Deutsch?
Ein bisschen. Ich habe acht Jahre lang Deutsch gelernt. Aber leider viel zu selten in Deutschland gearbeitet. Viel habe ich profitiert von Anne Le Bozec, sie hat lange in Deutschland gelebt und gelehrt und ist die perfekte Klavierpartnerin für mich, wenn es um das deutsche Lied geht. Anne hat auch Tristan Raës mit mir zusammengebracht, damals, in dem Jahr, als wir beide bei ihr in Paris studierten. Seither sind Tristan und ich ein Lied-Duo, beste Freunde, engste Partner. Aber wir nannten uns damals, als wir anfingen und für den Nadia-und-Lili-Boulanger-Wettbewerb einen Namen brauchten, zunächst „Duo Contraste“.
Ihr jüngstes Album mit Tristan Raës präsentiert fast nur „Weltersteinspielungen“ von dem Film- und Operettenkomponisten Louis Beydts. Seine Lieder sind selbst in Frankreich unbekannt, anderswo erst recht. Vielleicht gibt es drei, vier Leute, die sich eventuell an Beydts’ bizarre Chansons pour les oiseaux vom Fressen und Gefressenwerden erinnern. Sie haben jetzt 36 Lieder von ihm wieder auferstehen lassen. Wo haben Sie die gefunden?
Vieles davon liegt in der Bibliotèque Nationale de France. Aber es war wirklich schwierig, das Aufführungsmaterial zusammenzusuchen. Einiges davon ist unvollständig überliefert. Anderes verschollen. Es ist unglaublich, wie schnell Beydts vergessen werden konnte! Er war eine so wichtige Figur für die französische Musikwelt. Er hat viel mit Sacha Guitry zusammengearbeitet, war Direktor der Opèra Comique, einer der letzten französischen Komponisten womöglich, die zugleich an der Spitze eines großen Hauses standen. Zwischen 80 und 90 Lieder hat Beydts komponiert. Tristan und ich präsentieren jetzt nicht einmal die Hälfte davon.
Was denken Sie: Warum geriet Louis Beydts trotz seiner Erfolge so schnell in Vergessenheit?
Tja, ich weiß es auch nicht. Warum wird der eine berühmt und der andere nicht? Beydts schrieb zauberhafte Melodien für das Theater. Vielleicht zu zauberhaft? Jedenfalls war so etwas für die Avantgardisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg eine radikal neue Musiksprache erfinden wollten, einfach Unterhaltungsmusik, völlig indiskutabel. Es erging Beydts da wie Henri Sauguet oder Joseph Canteloube: Man hielt ihn für hoffnungslos veraltet. Dabei schrieb er fantastische Musik! Fesselnd, witzig, harmonisch eigensinnig, in einem ganz eignen Stil. Ich liebe diese Lieder und bin mir sicher, dass das anderen auch so gehen wird. Sie haben für mich den gleichen Rang wie die von Debussy oder Ravel und müssen unbedingt bekannt gemacht werden.
Und wen retten Sie als nächstes vor dem Vergessen?
Es wird ein Liederalbum geben mit Werken von Gabriel Dupont. Kennen Sie den? Er hat drei Opern hinterlassen. Aber zuerst steht ein ganz anderes Projekt auf meiner Agenda, mit dem ich selbst nie gerechnet hätte: Wir werden ein Gershwin-Musical aufnehmen, arrangiert für Bläserquintett und Klavier. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten. Und im Oktober beginnen wir dann mit einem Projekt für Wigmore Hall: sämtliche Lieder von Gabriel Fauré, verteilt auf zehn Recitals, kombiniert mit Liedern anderer, die nicht so bekannt geworden sind.