Mit Der Freischütz gelang Carl Maria von Weber nichts weniger als ein veritabler Opernhit. In diesem Juni feiert der Dauerbrenner nun seinen 200. Geburtstag. Splitter einer Erfolgs- und Misstrauensgeschichte
Von Roland H. Dippel
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Ökologische Unvernunft, Waldsterben, Naturflächenfraß. Als Raumspektakel von La Fura dels Baus am Uraufführungsort wird Carl Maria von Webers romantische Oper Der Freischütz am 18. Juni ereilt vom internationalen Thema Nummer Eins neben der Pandemie, dem Klimawandel. Das mit den Feierlichkeiten zum Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt (heute Konzerthaus Berlin) verbundene Jubiläum bleibt im digitalen Raum der ARTE-Liveübertragung coronabedingt isoliert. Von den vielen geplanten Freischütz-Wiederaufnahmen findet keine statt: weder die Inszenierung von Axel Köhler an der Semperoper Dresden, noch in Hannover die von Kay Voges, und auch nicht die an der Staatsoper Unter den Linden von Michael Thalheimer. Mit bisher acht Freischütz-Inszenierungen seit 1956 ist die Bespielung der Felsenbühne Rathen – nahe an der Grenze zu Tschechien und damit fast am Originalschauplatz – eine Hauptaufgabe der Landesbühnen Sachsen. Wegen des Umbaus der eindrucksvollen Naturkulisse im Elbsandsteingebirge und der Corona-Schutzbedingungen muss man sich dort im Juni mit einer Minifassung für zwei Klaviere ohne Chor im Carl-Maria-von-Weber-Museum Dresden-Hosterwitz bescheiden.
Wie bei wenigen Opern klaffen die Meinungen des Publikums, der Macher und der Kritik so weit auseinander wie beim Hauptwerk des Dresdner Musikdirektors Weber und des Schriftstellers Friedrich Kind. Dieser schuf nach der Erzählung aus dem Gespensterbuch seines Mitschülers Theodor Apel die Basis für eine der schönsten, aber auch problematischsten Dialogopern in deutscher Sprache. Vor der Jahrtausendwende galt Der Freischütz zumindest an den ganz großen Häusern als schwer realisierbar, obwohl Achim Freyer 1980 an der Oper Stuttgart mit seinen visuellen Verweisen auf die Nähe des Freischütz zu Volkstheater und ländlicher Genremalerei Tore zu neuen Interpretationswelten aufgestoßen hatte. Das erhoffte Happy End der Problembeziehung von Agathe und Max nach dem in Aussicht gestellten Probejahr ist – auch durch den übersinnlichen Dualismus von geweihten Rosen und teuflischen Freikugeln – ein Regie-Prüfstein und also noch heikler als Beethovens Fidelio, das „Hohelied der Gattenliebe“ und der seit 1945 zu jeder Neuinszenierung scharf diskutierte Schlusschor der Meistersinger von Nürnberg. Dafür zeigt Der Freischütz zwischen „Jägerchor“ und „Jungfernkranz“-Lied einsame Menschen mit einer Figuren-Konstrukte der Gegenwart vorwegnehmenden Labilität – Jochen Biganzoli setzte in Lübeck (2018) gerade diese „Angst-Welten“ ins Zentrum. Für Biganzoli sind diese zutiefst real, egal ob Weber und Kinds „finstere Mächte“ aus der Natur, aus der Religion oder aus dem Druck der Gemeinschaft entstehen.
Der Freischütz weist demzufolge ins Innere, ins Analytische, ins Mysteriöse und kreist, zumindest in Deutschland selbst, immer wieder um die Frage des Deutschseins. Aufzuräumen gilt es aber mit dem hierzulande gern kolportierten Vorurteil von den Schwierigkeiten, die Der Freischütz für die internationale Musiktheaterszene angeblich aufweist. Aufführungen gab es in den letzten 20 Jahren von Toronto bis Tokio, Handicap ist heute – wie bei Fidelio und Zauberflöte – eher die mit internationalen Sängerbesetzungen und Aufführungen in Originalsprache nur schwer zu erreichende Dialogsouveränität. Gerade als Studienmaterial für deutsche Diktion ist Der Freischütz ein beliebtes Werk an Musikhochschulen und kleineren Theatern in Amerika, in denen ein Ännchen mit Moonwash-Jeans vom „schlanken Burschen“ singt und die Geister der Wolfsschlucht mitunter weiße Spitzhüte tragen wie der Ku-Klux-Klan.
An der Mailänder Scala (2017) griff Matthias Hartmann mit vitalen Chorwirkungen, einem rothäutigen Samiel und Accessoires, die dort seit über 100 Jahren für die Ikonographie deutscher, schottischer und anderer Sujets aus Mittel- und Nordeuropa stehen, tief in den szenischen Farbtopf. In Deutschland hätte man ihn dafür aufgrund mangelnder Selbstreflexion wahrscheinlich an den bei Freischütz-Aufführungen gern benutzten Feuilleton-Pranger gestellt. Hierzulande nähert man sich dem Freischütz dafür gern unter Vermeidung heikler Fragen: Thomas Langhoff entzog sich für seine über 15 Jahre im Repertoire der Bayerischen Staatsoper verbliebene Inszenierung 1998 ausdrücklich der Stellungnahme, ob „Der Freischütz eine Nationaloper sei“. Dmitri Tcherniakov (siehe unsere Besprechung in OPER! 4/2021) negierte in München alle mystischen, dualistischen, esoterischen Komponenten und zeigte die Bedrängnisse von Max, Agathe, Kaspar und des queeren Ännchen als Konsequenzen gebrochener und zerrütteter Biografien.
Vokales Umdenken in den Fachpartien
Damit ist in den letzten Jahren eine weitere Tendenz der Freischütz-Rezeption auffallend. Besetzungen mit „typisch“ charismatischen Rollenvertretern der Fächer des (jugendlich-)dramatischen Soprans und (jugendlichen) Heldentenors wie Camilla Nylund und Andreas Schager, die im Mai 2020 an der Wiener Staatsoper vorgesehen waren, sind heute seltener. Trotz Lise Davidsens außergewöhnlich angstfrei und vital flutender Agathe (unter Marek Janowski mit der Dresdner Philharmonie) und Andreas Schager gehören die vier oder – zuzüglich Eremit – fünf Fachpartien nicht mehr selbstverständlich in jede Sängerbiografie wie noch im 20. Jahrhundert. Der zaudernde Max hatte weder im Repertoire von Jonas Kaufmann noch in dem von René Kollo größere Bedeutung. Einerseits durch das wissenschaftlich-konzeptionelle Nachdenken über die Figuren, andererseits durch die Erkenntnisgewinne aus der historisch informierten Aufführungspraxis besetzt man heute den Freischütz eher mit Mozart- als mit Wagner-Stimmen. So auch in der für 18. Juni 2021 in Paris angekündigten Jubiläumsaufführung unter William Christie. Dort wird Maximilian Schmitt auftreten, der schon in der archaisierend geschärften Inszenierung von Tatjana Gürbaca (Essen 2018) und der Einspielung unter Tomáš Netopil einen glänzenden Erfolg hatte.
Der geballte Widerstand gegen dieses lange vorbereitete vokale Umdenken brandete schon den drei Freischütz-Einspielungen entgegen, welche die Interpretationsgeschichte mit einer leichtgewichtigen Besetzung vor allem des Max revolutionierten. Carlos Kleiber (1973) mit Peter Schreier war davon betroffen wie auch Nikolaus Harnoncourt mit Endrik Wottrich (1995) und Bruno Weil mit Christoph Prégardien (2001). Dabei steigern leichtere Stimmen im Zusammenklang mit Webers genialer Instrumentation die klingende Ambivalenz, weil sie nicht wie durchschlagskräftigere Stimmen machtvoll über dem Orchester schweben, sondern auch zu diesem in manchmal spröden Widerstreit treten müssen.
Gerade die Pariser Jubiläumsaufführung bestätigt, dass Der Freischütz mehr ist als eine verschrobene deutsche Opernmarotte mit dankbaren Aufgaben für German Trash. In Paris gab es in den letzten 20 Jahren mindestens vier verschiedene (Ko-)Produktionen, welche die dortigen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts um den Freischütz fortsetzen. Nicht nur in Opern wie Giacomo Meyerbeers Robert le diable (1831) oder Alfredo Catalanis Loreley (1890) und La Wally (1892), die unter dem Eindruck der Freischütz-Aufführungen an der Mailänder Scala entstanden, spürt man die Nachwirkungen, sondern vor allem in der Rezitativ-Fassung von Hector Berlioz (1841). Leider trat sie erst ins internationale Bewusstsein (und kommt in deutschsprachigen Produktionen gelegentlich zu Ehren wie in Innsbruck 2020), als in den letzten 30 Jahren in Opern wie Carmen und Hoffmanns Erzählungen nachkomponierte Rezitative generell, wenn auch aus verschiedenen Gründen, als unmöglich galten.
Betreffend Quellen zu Entstehung, Verbreitung und Wirkung gehört Der Freischütz zu den am besten dokumentierten Opern des Repertoires. Bekannt ist die Mitwirkung von Webers Sohn Max an dessen propagierender Festschreibung zur deutschen Nationaloper mit hoher Relevanz für die politische Identität. Bekannt ist die von Richard Wagner forcierte Polarisierung zwischen dem Freischütz und dem klassizistischen Opernideal italienisch-französischer Prägung des Preußischen Generalmusikdirektors Gaspare Spontini, in welcher Wagner die Oper Webers als Prototyp eines zukünftigen deutschen Musiktheaters idealisierte. Für fast alle ambitionierten Freischütz-Inszenierungen vor 2000 gehörte Elias Canettis Metapher vom „marschierenden Wald“ in Masse und Macht zum Regie-Rüstzeug als Antwort auf die Wald-Verklärung des Freischütz durch den Rechtsnationalisten Hans Pfitzner. Noch Calixto Bieito stellte an der Komischen Oper Berlin (2012) fest: „Der Wald ist der Motor dieser Oper, nicht die Figuren“ und lieferte dann die gewalttätigste Produktion der letzten Jahre neben Kay Voges (Hannover 2015), der den Freischütz als Entstehung eines Gemäldes über Deutschland in der beginnenden Spaltung deutete.
Blut, Grenzüberschreitungen und emotionale Extreme in der „verdrängten klassischen Dreiecksbeziehung“ (Regisseur Johannes Reitmeier, Innsbruck 2020) zwischen Max, Agathe und dem zum Teufelspakt verführenden Kaspar gehören zum Freischütz. Damit steht dieser näher an Andrea Maria Schenkels Heimat-Mordroman Tannöd als an Loriots Adventsgedicht von der emsigen Försterin, die in einer „wunderschönen Nacht“ den Förster umbringt. Als Loriot den Freischütz nach der ihm weitaus besser geratenen Martha für Ludwigsburg (1988) inszenierte, behielt die Oper Stuttgart Freyers Freischütz-Inszenierung vorsorglich im Repertoire. Vor Kurzem feierte man dort deren inzwischen 40-jährige Erfolgstauglichkeit. Freyers Schießscheiben und nicht minder farbkräftige Pausbäckchen in Sängergesichtern erwiesen sich nachhaltiger als die Geweihe an den Jagdschlösschen-Wänden der Lesart vom „Meister des feinen Humors“ Loriot, der Wagners Ring in seinen inzwischen klassischen Zwischentexten weitaus leichter meisterte als Webers Wolfsschlucht. Eine bei ihrer Kavatine „Leise, leise“ im Fensterrahmen stehende Agathe ist heute eh nur noch bei Freilichtaufführungen wie auf der Felsenbühne Rathen denkbar – oder wenn bei Tcherniakov in München die Firmenerbin Agathe das französische Fenster der Vip-Lounge aufreißt.
Samiel als genderkorrekte Nebenrolle
Drei Jahre komponierte Weber an Friedrich Kinds Textbuch – er änderte, verwarf und ergänzte noch kurz vor der Uraufführung an besagtem 18. Juni 1821. Webers pragmatische Erwägungen sind noch immer besser als heutige Verlegenheitslösungen aus falscher Scham. Um keine weitere Partie für einen „ersten Bassisten“ zu fordern, verzichtete Weber auf die Eingangsszenen und das Duett Agathes mit dem Eremiten, wodurch die kriegstraumatisierte Figur des Kaspar größeres Gewicht erhielt. Die Vorgeschichte zu Der Probeschuss (erster Arbeitstitel) und Die Jägersbraut (zweiter Arbeitstitel) verwandelte Weber zum besseren Verständnis von einer gesungenen Ballade in eine gesprochene Erzählung, die für Regisseure noch immer ein Angstmoment ist – Michael Thalheimer gestaltete sie bei seiner in einem Gewehrlauf spielenden Inszenierung (Berliner Staatsoper 2015) als Sprechchor.
Hier schließt sich der Kreis von Betrachtungen zum Freischütz-Jubiläum. Auch nach der Ballade über den kaputten Wald von La Fura dels Baus im Konzerthaus am Gendarmenmarkt gibt es noch eine Menge Freischütz-Holz, nicht nur die massive Eiche mit Feinmaserungen einer immer detaillierteren Ausleuchtung, in der durch Darstellerinnen wie Christine Schäfer und Anna Prohaska die Figur des Ännchen endlich die angemessene Aufwertung erfährt wie bei der Uraufführung durch Johanna Eunike, E. T. A. Hoffmanns erste Undine. In Hoffmanns von Weber gekränkt aufgenommenen Kritiken war wohl auch Neid die Triebfeder des Spottes, weil Undine schnell in den Schatten des Freischütz-Erfolgs geriet.
Weber selbst wusste, dass er mit diesem Modestoff aufs Ganze gehen musste, weil es auch andere ernstzunehmende Adaptionen gab. Johann Nestroy sang nicht nur den Kurfürst Ottokar in Webers Vertonung, sondern trat später mit seinem Komiker-Partner Wenzel Scholz im Wiener Theater in der Leopoldstadt in Der Freyschütze, einer „romantisch-komischen Volkssage“ von Ferdinand Rosenau, auf. Das Schauspiel Die Schreckensstunde am Kreuzwege um Mitternacht oder Der Freyschütze des Ritterromanautors Joseph Alois Gleich wurde von Inntaler und Tiroler Dorftheatern von Kiefersfelden bis Buch noch gespielt, als Webers Freischütz längst auf allen deutschen Bühnen etabliert war und Ende des 19. Jahrhunderts von der Komponisten-Generation nach Verdi erneut als Vorbild entdeckt wurde. Immerhin setzte sich Weber also durch und behauptet sich weiterhin neben dem auch durch ihn inspirierten Musical The Black Rider (Hamburg 1990). Bei Robert Wilson, Tom Waits und William S. Burroughs spielt uns der (männliche) Stelzfuss als „Teufel auf zum Tanz“, während Webers böser Geist Samiel zunehmend häufiger eine Angelegenheit für Schauspielerinnen wird: Das absolut Böse zeigt sich heute also gern als beste und genderkorrekte Nebenrolle.
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