LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Erinnert sich noch jemand an den Vorfall 2012, bei dem der Politiker Rainer Brüderle gegenüber der Journalistin Laura Himmelreich bei einem Gespräch an der Bar mit Blick auf ihren Busen bemerkt haben soll, sie könne ein Dirndl auch ausfüllen? Der Vorfall, von dem Himmelreich erstmals ein Jahr später in einem Porträt über Brüderle öffentlich berichtete, entfachte eine große, auch vorurteilsbeladene Diskussion darüber, inwiefern – so wurde unterstellt: „dauererotisierte“ – Männer sich sexistisch gegenüber Frauen äußern und verhalten.
Ganz anders ist der Vorfall, der sich nun am Staatstheater Nürnberg zugetragen hat, und doch fühlt man sich an den Fall Brüderle erinnert. Denn hier wie dort geht es um das Überschreiten einer roten Linie, die so schwer zu definieren ist. Bei Brüderle lag sie zwischen einem Kompliment und einer Anzüglichkeit. Bei Peter Konwitschny, um den es in der Nürnberger Angelegenheit geht, liegt sie zwischen Unüberlegtheit und verinnerlichten Klischees, die offensichtlich noch nicht ausreichend auf ihren rassistischen Unterton und ihr darin liegendes Verletzungspotenzial überdacht worden sind. Doch was war geschehen?
Nach Schilderungen des 76-jährigen Regisseurs arbeitete dieser während der Endproben zu Verdis Troubadour mit Solisten und Chor an einer Szene, in der Nonnen schockiert sein sollen, weil sie mit einer Waffe bedroht werden. Als eine der Sängerinnen sich aus Angst vor der Pistole ganz abwendet, geht Konwitschny dazwischen und erklärt ihr: „Frau M., das ist anders, wenn man in so einer Horrorsituation ist, dann will der Körper weg, aber der Blick bleibt haften, den kriegt man nicht weg.“ Anschließend fügt er noch hinzu: „Das ist wie in Afrika, wenn Ihnen ein Löwe entgegenkommt, dann können Sie auch nicht weggucken“. Das entscheidende Detail hierbei: Frau M. ist schwarz.
Gegenüber Konwitschny hat sich die Sängerin nicht über die Äußerung beschwert, sehr wohl aber gegenüber der Intendanz, die daraufhin dem Regisseur vorwarf, sich in „rassistisch diskriminierender Weise“ verhalten zu haben. Konwitschny ist verärgert, dass die Sängerin ihn nicht selbst anspricht, entschuldigt sich dennoch bei ihr, aber nicht für Vorsätzlichkeit, denn die hätte es nicht gegeben. Die Kommunikation geht hin und her und über Bande und plötzlich stehen alle vor einem Scherbenhaufen. Das Staatstheater Nürnberg, das wohl eine explosive öffentliche Diskussion fürchtet, die nicht mehr einzufangen ist, will die Sache so schnell wie möglich loswerden und lässt Konwitschny den Aufhebungsvertrag zukommen – rund zwei Wochen vor der Premiere. Doch handelt es damit solidarisch mit der Sängerin und im Sinne der Sache, um die es hier ganz eigentlich geht? Oder agiert es vor allem aus Angst vor öffentlichem Imageschaden?
In einem Interview schilderte einmal ein schwarzer Sänger, dass er bei den Sicherheitskontrollen am Flughafen regelmäßig herausgenommen und intensiver durchsucht würde. Seine persönliche Begründung hierfür lautete, dass das Sicherheitspersonal die Intensiv-Kontrollen auch stichprobenartig mache und wenn dann ein Schwarzer kommt, es bewusst oder unbewusst daran „erinnert“ wird, mal wieder genauer hinzuschauen. Alltagsrassismus auf der Grundlage verfestigter Vorurteile! Erst im Juni dieses Jahres beklagte die südafrikanische Sopranistin Pretty Yende ein ähnliches Erlebnis am Flughafen Paris.
Die rote Linie ist schwer auszumachen, auch wo Vorsätzlichkeit anfängt und bestenfalls fehlende Reflektion des Themas ebenso schuldhaft ist wie unterstellter Rassismus (die Verbindung zwischen ihr und Afrika stellt zunächst einmal die Sängerin selbst her, ebenso wie die negative Konnotation). Doch eines ist sehr klar: Angst und vorauseilender Gehorsam gegenüber einem befürchteten öffentlichen Urteil dürfen nicht die Diskussion und Auseinandersetzung mit dem Thema verhindern. Was ist gewonnen mit dem Rausschmiss von Konwitschny? Nichts. Und sind es nicht gerade die Theater, die immer nach Dialog rufen und sich gegen Cancel Culture stellen? Hier hat sich das Staatstheater Nürnberg sicher ebenso wenig mit Ruhm bekleckert wie Peter Konwitschny mit seiner unüberlegten Äußerung.
Nicht nur aktuell, auch in der vergangenen Spielzeit war nicht alles nur zur Freude – weder hinter noch auf der Bühne. Die OPER! AWARDS haben in diesem Jahr auf den Wettbewerb und die Preisverleihung verzichtet, denn der Bewertungszeitraum, die Spielzeit 2020/21, hat so gut wie nicht stattgefunden. Bestenfalls als Streams, doch die sind keine Bewertungsgrundlage. In zwei Gesprächsrunden, erweitert durch Gäste, hat die Jury die vergangenen Monate kritisch Revue passieren lassen und einen Ausblick gewagt. Über manch Positives ist hier ebenfalls zu berichten. Doch lesen Sie selbst darüber in der vorliegenden Ausgabe und werfen Sie vielleicht auch einen Blick auf unsere Nahaufnahme zur Produktion der Oper Die Nacht vor Weihnachten von Rimski-Korsakow an der Oper Frankfurt. Nicht nur das Opernschaffen dieses Komponisten sollte deutlich mehr Beachtung auf den Bühnen finden. Auch Camille Saint- Saëns, der am 16. Dezember vor 100 Jahren gestorben ist, hat mehr zu bieten als Samson et Dalila, doch erst langsam werden seine Bühnenwerke wiederentdeckt. In unserer Rubrik „Multimedial“ finden Sie die wichtigsten für Dezember geplanten Sendungen und Beiträge zum Komponisten.
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke