LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
seit der Wiedervereinigung wandert das Orchester der Deutschen Oper Berlin durch das tiefe Tal der Tränen. Aus und vorbei die Zeiten, in denen man als alleiniger Opernplatzhirsch das städtische Revier beherrschte und mit legendären Aufnahmen unter nicht weniger bedeutenden Generalmusikdirektoren (GMD) und Gastdirigenten regelmäßig auch internationale Aufmerksamkeit auf sich zog.
Mit der Staatskapelle Berlin und Daniel Barenboim an ihrer Spitze seit 1991 wurde das Kräfteverhältnis der großen Berliner Opernklangkörper neu austariert – zum Vorteil für die Ost-, zum Nachteil für die Westberliner. Barenboim formte das Orchester zu einem Edelklangkörper, bei dem die Musiker der Deutschen Oper kaum mehr hinterherkamen. Das geschah durch den künstlerischen Zugriff des Chefs, aber auch durch kontinuierliche Gehaltssteigerungen, die es der Staatskapelle ermöglichten, im Durchschnitt bessere Musiker zu engagieren als das West-Haus an der Bismarckstraße. Barenboim war es gelungen, sein Orchester im bundesweiten Gehaltsranking von der 23. Position unter die Top fünf zu bekommen, allein die sogenannte Kanzlerzulage, die Gerhard Schröder 2001 auf Agieren des Maestros hin gewährte, erhöhte den Unterschied zu den West-Kollegen um 1.000 Euro pro Musiker. Da konnte Christian Thielemann als GMD der Deutschen Oper Berlin von 1997 bis 2004 noch so sehr für einige Highlights sorgen – die Berliner Staatskapelle war längst das besser ausgestattete und interessantere Ensemble.
Heute steht der gebürtige Westberliner dem Ost-Orchester als Nachfolger Barenboims vor, die künstlerische Vorherrschaft des Klangkörpers scheint zementiert und still wie ein Schatten über jeder Premiere der Deutschen Oper zu liegen. Manchmal lässt die Vorstellung ihn vergessen, aber die Gestaltungskraft von Donald Runnicles, seit 2009 GMD des Hauses, reicht nicht aus, das Niveau der Kollegen am Haus Unter den Linden zu erreichen oder gar zu toppen.
Wie ein cleverer Versuch, aus dem ohnehin kaum zu gewinnenden Wettbewerb mit der Staatskapelle auszusteigen, wirkt da die Ankündigung des designierten Intendanten der Deutschen Oper Berlin, Aviel Cahn, es die ersten Jahre ohne GMD, aber dafür mit zwei Principal Guest Conductors (Maxime Pascal und Michele Spotti) und einem Conductor in Residence (Titus Engel) zu versuchen. Das gibt dem Orchester und dem Haus mehr Zeit zur Findung eines Nachfolgers – oder für die Entscheidung, künftig gänzlich ohne GMD zu arbeiten. Es wäre nicht das einzige Haus. Auch die Wiener Staatsoper hat in ihrer Geschichte schon Phasen ohne Musikdirektor hinter sich gebracht. Das lag allerdings auch daran, dass Dirigenten gleich dem ganzen Haus vorstanden, wie Karl Böhm (1954 bis 1956), Herbert von Karajan (1956 bis 1964) oder Lorin Maazel (1982 bis 1984). Aktuell ist es wieder ohne Musikchef und wird von einem Musikmanager geleitet.
Für die Deutsche Oper Berlin muss die Neuaufstellung auf jeden Fall erst einmal nichts Schlechtes bedeuten, es könnte auch ein Anfang der programmatischen Neusortierung in der Hauptstadt sein. Denn GMDs mit denselben musikalischen Interessen auf Kosten eines wirklich breiten Repertoires, braucht das Publikum ebenso wenig wie die drei parallelen Ringe der Berliner Staatsoper, der Deutschen Oper Berlin und der Berliner Philharmoniker (konzertant ab nächstem Jahr) – so sehr auch jeder einzelne seine Berechtigung mit genau diesem Ensemble an eben diesem Ort hat.
Ungewohntes wird aktuell auch von der szenischen Seite in den Opernbetrieb eingespielt: das Pasticcio. Zusammengestellt aus verschiedenen musik(theatralischen) Werken und geformt zu einer neuen Handlung, bringt es dem Zuschauer Unerhörtes und Ungesehenes. Eine publikumswirksame Repertoire- Erweiterung ist das, die man der Neuen Musik in den Intendanz- Etagen so vielleicht nicht zutraut, willkommen aber auf jeden Fall, wenn sie so geistreich und berührend gemacht wird wie bei den Salzburger Festspielen an Pfingsten mit Hotel Metamorphosis oder im Sommer mit Zaide. Dass Letztere in ihrer szenischen Fast-Mittellosigkeit auch aus Kostengründen programmiert wurde, war für die auf ihre mehrjährige Riesenrenovierungsmaßnahme sparenden Festspiele sicher nicht das kleinste Argument. In unserem Schwerpunktbeitrag gehen wir dem Thema genauer nach.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke / Chefredakteur



