LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Im November vergangenen Jahres erklärte Christiane Theobald, die Kommissarische Intendantin des Staatsballetts Berlin (ab der Spielzeit 2023/24 wird Christian Spuck die Compagnie übernehmen), die aktuelle Nussknacker-Produktion aus dem Spielplan zu nehmen. Für viele Ballettfreunde klang das, als habe man Weihnachten soeben komplett abgesagt. Eine nachvollziehbare Reaktion, wenn man bedenkt, dass es sich bei der Produktion um eine rekonstruierte Fassung der 130 Jahre alten Original-Choreografie von Marius Petipa handelt, die in ihrer bunten Märchenhaftigkeit schon vielen Generationen als Der Nussknacker schlechthin gilt. Es gibt in ihr allerdings auch klischeehafte Darstellungen beispielsweise des Chinesischen Tanzes und des Orientalischen Tanzes, wie man sie heute nicht mehr wagen würde. In einer kolonialistisch geprägten Epoche wie jener der Uraufführung aber wurden ethnische Stereotypen eher produziert als hinterfragt. Die Zeit der kritischen Revision ist heute, wenngleich nicht unumstritten ist, in eine bestehende Inszenierung korrigierend, wenn nicht gar zensierend einzugreifen, da die Produktion ja selbst über einen eigenständigen Werkcharakter verfügt. Und der kann nicht einfach geändert werden. Wie also gewissermaßen das Bild an der Wand lassen, ohne es übermalen zu müssen? Vorerst hat man es abgehängt und die Berliner werden auch in diesem Winter ohne ihren Nussknacker leben müssen. Ob sie ihn je wiedersehen werden, steht in den Sternen.
Am Nikolaustag 1892 (gemäß der nach julianischem Kalender zählenden orthodoxen Kirche) bzw. dem 18. Dezember nach dem heute gebräuchlichen gregorianischen Kalender wurde Tschaikowskys Ballett zusammen mit seinem Operneinakter Jolanthe am Mariinski-Theater in St. Petersburg erstmals auf der Bühne gezeigt. Die Geschichte um die blinde Prinzessin, die durch Liebe sehend wird und so durch das Licht aus ihrer Dunkelheit befreit wird, lässt sich zwar auch weihnachtlich lesen, doch mit Wakula, der Schmied, später zu Pantöffelchen kräftig überarbeitet, schrieb Tschaikowsky eine Oper, die noch viel direkter auf Weihnachten rekurriert und deren Handlung explizit in der Nacht davor angesiedelt ist.
Das Opernrepertoire kennt etliche Werke, die auf Weihnachten bezogen sind, auch wenn die Verbindung nicht immer auf Anhieb zu erkennen oder nur rein kalendarisch gegeben ist. La bohème etwa beginnt am Weihnachtsabend, bevor die Handlung über ein paar Monate hinweg schließlich in der Katastrophe mündet.
Was ist mit solchen Weihnachtsoper, die wie das Nussknacker-Ballett überwiegend aus einer Zeit stammen, in der political correctness noch kein Thema war, der christliche Glaube in der Breite der Bevölkerung aber dafür umso mehr? Werke also, die heute auf ein komplett anderes Publikum mit ganz anderen Wertvorstellungen treffen. Welche Herausforderungen bringt ihre Aufführung mit sich? Eine Idee davon gibt der Streifzug durch weihnachtliche Bühnenwerke in unserem aktuellen Themenbeitrag.
Welche ganz besonderen CDs das zu Ende gehende Jahr hervorgebracht hat, haben wir wiederum in unserem Medien-Scout für Sie zusammengefasst. Die unveränderte Bedeutung von CD-Aufnahmen zeigt sich nicht zuletzt an ihrem zeitdokumentarischen, archivarischen Charakter. Lisa della Casa etwa starb am 10. Dezember vor zehn Jahren im Alter von 93 Jahren. Warum sie als eine der besten Mozart- und Strauss-Interpretinnen ihrer Zeit galt, kann man heute nur noch anhand von Tonaufnahmen nachvollziehen. Oder June Anderson. Die Sopranistin war in den 1980er-Jahren ein weltweit gefeierter Star. Wer wüsste heute noch warum das so war und würde sich noch an sie erinnern, gäbe es nicht die Einspielungen von ihr? Gerade einmal 70 Jahre wird sie am 30. Dezember – was auch zeigt, wie schnelllebig das Sängergeschäft ist. In einem Porträt würdigen wir die US-amerikanische Sängerin und erinnern an ihre besten Aufnahmen.
Wie fragil der Kunstbetrieb generell ist, wissen auch die 16 Freundeskreise staatlicher Kulturinstitutionen in München (darunter auch die Bayerische Staatsoper), die sich zusammengeschlossen haben, um im bevorstehenden Landtagswahlkampf in Bayern mit vereinten Kräften für die Kultur einzutreten. Gut so! Angesichts multipler Krisen wird es die freiwillige Leistung Kultur in den härter werdenden Verteilungskämpfen nicht leicht haben. In Stuttgart, wo mit der Sanierung der Staatstheater bereits ein kulturelles Großprojekt geplant ist, gibt es außerdem schon seit 2019 eine Initiative für die Errichtung eines neues Konzerthauses. Und in Hamburg liegt der Vorschlag für einen Opernneubau auf dem Tisch. Neben manch Misslichem kann man gewiss auch optimistisch ins neue Jahr blicken!
Ich wünsche Ihnen eine schöne Weihnachtszeit und grüße herzlich,
Ihr
Ulrich Ruhnke