LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Ein „hypnotisierendes Ebenmaß in der Melodieführung“ und einen „wasserklaren Klang“ bescheinigt in der vorliegenden Ausgabe unser New Yorker Autor der italienischen Sopranistin Rosa Feola. Als Gilda in der (mit der Berliner Staatsoper koproduzierten) Neuinszenierung von Rigoletto an der Metropolitan Opera hat sie das Premierenpublikum am Silvesterabend in begeistertes Staunen versetzt. Schon in unserem Titelinterview für die Januar-Ausgabe hatte Feola darauf hingewiesen, dass bei dieser Produktion vieles zusammenkam, was die Kunstproduktion begünstigt und ein Optimum im Ergebnis ermöglicht hat. Der Idealfall eines Kurzzeit-Ensembles vielleicht, bei dem freischaffende Künstler für einen begrenzten Zeitraum zusammenfinden und gemeinsam Großes entstehen lassen. Der Einkauf prominenter Namen allein ist noch kein Garant hierfür. Der Aufbau einer Langzeit-Zwangsgemeinschaft aus festangestellten Ensemble-Mitgliedern, die gemeinsam eine Premiere nach der anderen herausbringen (müssen), allerdings auch nicht. Der viel beschworene, aber selten erreichte Ensemblegeist, der dann auch so etwas wie Zauberstunden entstehen lassen kann, lässt sich nicht erzwingen. Weder im Stadttheater mit Festensemble, noch in der Staatsoper mit Gastsängern. Beide Modelle haben ihre Vor- und Nachteile – für das Erreichen des künstlerischen Gesamtergebnisses ebenso wie für den einzelnen Künstler.
Nahezu alle freischaffenden Sängerinnen und Sänger haben in der Corona-Pandemie die Risiken und Nachteile ihrer selbstständigen Tätigkeit mit voller Wucht zu spüren bekommen, nicht wenige von ihnen zieht es deshalb (zurück) ins Ensemble. Auch die spätestens nach der Pandemie zu erwartenden, stellenweise jetzt schon angekündigten Kürzungen der Kulturetats sowie die Megathemen Klimaschutz und Nachhaltigkeit lassen das Ensemble in altem neuem Glanz erscheinen. Der künstlerische Jet-Set jedenfalls wird sich künftig einem deutlich verschärften klimamoralischen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sehen. Doch kann das Ensemble hier die Lösung sein? Das Bild, das sich bei näherer Betrachtung zeigt, ist nicht nur rosig. Lesen Sie dazu mehr in unserem Themenbeitrag.
Auch die andere Perspektive ist in der aktuellen Ausgabe vertreten: Der Bariton Rafael Fingerlos war mehrere Jahre Mitglied des Ensembles der Wiener Staatsoper, das er nun verlassen hat, um in der Gestaltung seines künstlerischen Wegs ganz frei zu sein. Im Titelinterview spricht er über seine aktuelle Mozart-CD sowie künftige Projekte.
Schwierig ist die Perspektive derzeit nicht nur für die Künstler, sondern auch für die Opernhäuser, die aktuell allesamt damit kämpfen, das Publikum zu mobilisieren. Selbst in New York, wo die traditionell groß zelebrierte Silvester-Gala ein früher schnell ausverkaufter Termin war, fand die Vorstellung dieses Mal vor etlichen freien Plätzen statt. Immerhin konnte das Haus seit der Wiedereröffnung Ende September sein Programm durchziehen wie geplant – ein keinesfalls zu unterschätzender Vorteil, auch um das Vertrauen eines durch die Pandemie verunsicherten Publikums (zurück) zu gewinnen. Ebenso wichtig hierfür: das dauerhafte, unveränderte Angebot von 100 Prozent der Plätze.
Ganz anders dagegen die Situation in Europa. Seit Spielzeitbeginn im Spätsommer haben viele Opernhäuser schon wieder tage- oder sogar wochenweise schließen müssen. Und das keineswegs als nachvollziehbare logische Konsequenz des Pandemiegeschehens. Zum Redaktionsschluss etwa galt in Bayern nach wie vor, dass die Gastronomie mit der 2G-Regel (geimpft oder genesen) voll besetzen darf, die Opernhäuser dagegen nur mit der verschärften 3G-Regel (geimpft oder genesen und geboostert oder negativ getestet) und dann nur zu 25 Prozent!
Gegen ähnliche Ungleichbehandlungen gab es im Januar in den Niederlanden Protest von den Kulturschaffenden. Der Rechtsträger der Wiener Staatsoper scheint sein Publikum sogar besonders gerne abschrecken zu wollen: Zutritt nur als dreifach Geimpfter plus negativem PCR-Test.
Erneut drängt sich der Eindruck auf, dass der Staat der Meinung ist, mit den von ihm finanzierten Kultureinrichtungen machen zu können, was er will. Und sei es nur, um symbolisch Stärke demonstrieren zu können, wo man in anderen Bereichen nicht so widerstandslos agieren kann. Die fast hundertprozentige Abhängigkeit der Kultur vom öffentlichen Subventionsgeber entpuppt sich an dieser Stelle als großer Nachteil – auch für die Möglichkeiten des Protests. Ist die Pandemie ein Auf- oder vielleicht sogar Weckruf an die Theaterschaffenden, der immer größer werdenden Kulturferne von Politikern entgegenzuwirken? Wird neben der Publikums-Gewinnung auch die Politiker-Gewinnung die große Herausforderung der Zukunft?
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke