LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Am Ende der Oper und am Ende der von ihr selbst initiierten Gräueltaten geistert Lady Macbeth vom schlechten Gewissen getrieben und schon dem Wahnsinn verfallen nächtens durch das Schloss und ihre eigene innere Hölle. „Una macchia è qui tuttora“ singt sie und versucht dabei, sich den imaginierten immer wiederkehrenden Blutfleck von den Händen zu reiben. Einen anderen, aber nicht weniger persönlichen Albtraum dürfte auch Anna Netrebko erlebt haben, als sie am 7. Dezember bei der Inaugurazione der Mailänder Scala in Anwesenheit des italienischen Staatspräsidenten und – noch viel wichtiger – vor über zwei Millionen die Vorstellung live im Fernsehen verfolgenden Italienern sowie vor weiteren 350.000 internationalen Zuschauern bei Arte ausgebuht wurde. Zwei Mal sogar, zunächst nach der Auftrittsarie, die zugleich die große Lady-Arie in der Oper ist, und dann am Ende beim Schlussapplaus. Das gab’s für die amtierende Primadonna assoluta noch nie. Majestätsbeleidigung oder berechtigte Kritik? Klar ist, dass sich Netrebko mit ihrem Auftritt als Lady Macbeth in eine Reihe mit Maria Callas, Shirley Verrett und Maria Guleghina gestellt hat, die ebenfalls in dieser Rolle die Scala eröffnet haben. Und das Publikum hier kennt sich aus und vergleicht, prominente Namen beeindrucken es nicht. Wer nicht gut genug für das Haus ist, wird ausgebuht. Roberto Alagna etwa ging es so, selbst Luciano Pavarotti. Für manche war es eine Zäsur in ihrer Karriere, ein Knacks, von dem sie sich nicht mehr erholt haben.
Netrebkos Stimme hat sich verändert, ist gewissermaßen aus dem Leim und in die Breite gegangen, was ihren Klang nicht unbedingt attraktiver macht und zusätzlich weder der Intonation noch der Koloraturengeläufigkeit entgegenkommt. Dazu das von ihr selbst zugestandene, sehr gemäßigte Interesse an den Figuren, die sie singt, sowie die schon von mehreren Seiten, aktuell etwa vom Dirigenten Franz Welser-Möst, beklagte Probenunlust der Sopranistin. Mit Talent und Bühneninstinkt ist Anna Netrebko geradezu überreich beschenkt, doch ein völliger Selbstläufer ist so ein Auftritt auch nicht. Fünf Mal hat Mailand sie bislang die Saison eröffnen lassen, sechs Mal war es Maria Callas und Mirella Freni erlaubt. Es ist nur ein Zahlenspiel, aber die Mailänder lieben solche Symbolik und man darf gespannt sein, wohin die Reise der 50-Jährigen geht, gerade auch nach den aktuellen, für eine Sängerin nicht unkritischen Lebensjahren. Die Buhs haben der bislang Unangefochtenen jedenfalls erste Kratzer zugefügt, sie sind der Fleck, der ab jetzt immer wieder das Bild der Diva trüben wird.
Eine andere, mit Netrebko gleichaltrige Sopranistin, hatte schon früher Abende, an denen die Stimme altersbelastet klang. Nicht vehement, aber doch hörbar. Nun aber hat Diana Damrau in einem Repertoire, das Anna Netrebko schon vor Jahren hinter sich gelassen hat, erneut einen Coup gelandet: nämlich als Anna Bolena, die Damrau erstmals im Dezember in Zürich gesungen hat. Wie die Vorstellungen hier und in Mailand waren, lesen Sie in dieser Ausgabe ebenso, wie über Jonas Kaufmanns (nach London und München) dritte Otello-Produktion – dieses Mal in Neapel.
Ungewohnte Töne sind hingegen derzeit von der Metropolitan Opera in New York zu hören, wo man nicht nur mit Terence Blanchards Fire Shut Up In My Bones (uraufgeführt 2019 am Opera Theatre of St. Louis) die Saison eröffnete, sondern Ende des Jahres gleich ein zweites, quasi brandneues Werk auf der großen Bühne nachreichte, nämlich Matthew Aucoins 2020 an der Los Angeles Opera uraufgeführte Eurydice (lesen Sie unseren Bericht hierzu ab S. 30). Offenbar haben die amerikanischen Komponisten hier eine Tonsprache gefunden, die sogar die wegen ihrer Abhängigkeit von Sponsoren und Ticketverkäufen eher vorsichtig agierende Met dazu ermutigt hat, für das nächste Jahr eine weitere Blanchard-Oper ins Programm zu nehmen: den Champion, der erstmals 2013 zu sehen war, ebenfalls am Opera Theatre of St. Louis.
Neben Moderne plant die Met für die nächsten Jahre einen neuen Ring, der die auch „the machine“ genannte, wenig geliebte Produktion von Robert Lepage ersetzen soll. Nachdem man sich nach ersten Ergebnissen gegen eine Übernahme der Neuinszenierung von Stefan Herheim an der Deutschen Oper Berlin entschieden hatte, fiel die Wahl auf die aktuell begonnene Produktion der English National Opera. Doch ob man hiermit glücklicher wird? Mit der gerade herausgebrachten Walküre unternimmt der Regisseur Richard Jones seinen nunmehr dritten Anlauf mit der Tetralogie und kann erneut nicht recht punkten. Doch lesen Sie hierzu unseren Bericht in der vorliegenden Ausgabe, ebenso wie zur Situation der Künstler in England – genau ein Jahr nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und einen guten Start in das neue Jahr!
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke