LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Das Lied vom Konzert im Silbersee und dem Aussterben des Klassikpublikums ist so alt und wohlbekannt, dass man es fröhlich mitträllert, wann auch immer es wieder angestimmt wird. Vielleicht ist es einfach zu oft ertönt, seine Alarmstimmung jedenfalls zündet nicht mehr so recht. Auch wenn, wie die im Dezember veröffentlichte jüngste Studie des Berliner Instituts für Kulturelle Teilhabeforschung, die Lunte aktuell sogar an beiden Enden brennt. Im vergangenen Jahr zeigte sich die stärkste Abnahme der Besuche von klassischen Kulturangeboten ausgerechnet bei den Über-50-Jährigen, am deutlichsten aber bei Menschen im Alter über 70 Jahren. Zugleich sei eine verstärkte (Re-)Aktivierung von Nachwuchspublikum in jüngeren Altersgruppen nicht erkennbar. Menschen unter 30 Jahren fühlten sich bei klassischen Kulturangeboten fehl am Platz.
Doch wer sagt das? Noch größer als das Kulturangebot ist die Zahl der Menschen und ihrer Besuchs- oder Nichtbesuchsgründe. Das Konzertpublikum ist mitnichten identisch mit dem Opernpublikum, und das ist wiederum nicht nur von Stadt zu Stadt verschieden, sondern sogar von Vorstellung zu Vorstellung. Fragen Sie einen Intendanten nach einer Beschreibung seines Publikums, er wird ihnen bestenfalls die Grundzüge mehrerer Publika umreißen können. Ganz wertlos sind die Erkenntnisse der Publikumsforschung trotzdem nicht. Auch wenn ihre runtergebrochenen Kernaussagen den metierfremden Politikern von größerem Nutzen sind als den Kunstschaffenden selbst.
Erfolg lässt sich halt nicht backen, wie auch der gegenwärtig wohl erfolgreichste Komponist der USA, Jake Heggie, zu berichten weiß. Dessen Erstlingswerk, Dead Man Walking, wurde nun nach 23 Jahren weltweiter Produktionen auch an der Metropolitan Opera in New York gespielt, sogar als Saisoneröffnungspremiere. Ein Ritterschlag für den in Florida geborenen Heggie, mit dem wir über seinen gar nicht so einfachen und selbstverständlichen Weg bis zu seinem neuesten Werk Intelligence an der Houston Grand Opera für die vorliegende Ausgabe gesprochen haben.
Mehr als Europa scheinen derzeit die USA der Ort zu sein für neue Musiktheaterwerke, die es über die Uraufführung hinaus zu einem dauerhafteren Bühnenleben schaffen. Auch bei uns geht die Entwicklung weiter, wenn auch mit anderen Schwerpunktsetzungen. In Leipzig etwa lud die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth, zum Thema Nachhaltigkeit in Theater und Orchester ein. An der Oper Leipzig kam denn auch im Dezember die erste (angeblich) klimaneutrale Opernproduktion Mary, Queen of Scots von Thea Musgrave heraus. Auch andere Theater und Opernhäuser wie Regensburg oder Gelsenkirchen sind längst auf dem Weg, grüner zu werden. Bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik hat das neue Leitungsteam angekündigt, die oftmals ewig langen Originalfassungen der Opern einfühlsam zu kürzen und damit auch einem geänderten Rezeptionsverhalten entgegenzukommen (ähnlich wie die Bayreuther Festspiele, die für die Ring-Werke jetzt Einzelkarten anbieten und überlegen, mit unterschiedlichen Besetzungen in den Hauptpartien auch ein publikumsfreundlicheres Durchspielen der Tetralogie ohne dazwischenliegende Pausentage anzubieten).
In Frankfurt wiederum haben die Stadtverordneten in der Woche vor Weihnachten ihr Votum dafür gegeben, die Oper an altem Standort neu zu errichten und das Schauspielhaus nicht weit entfernt auf dem aktuellen Grundstück der Hauptverwaltung der Frankfurter Sparkasse neu zu bauen. Für die veranschlagten 1,3 Milliarden Euro sollen die neuen Häuser ihre hermetische Abgeschlossenheit verlieren und ganztägig auch für andere Kulturangebote genutzt und aufgesucht werden. Für ganze 199 Jahre will die Stadt das Gelände von den Grundstückseignern dafür pachten. Nach einem Auslaufmodell für Oper und Theater klingt das alles nicht. Auch in Hamburg sind die Pläne für ein neues Opernhaus nicht vom Tisch, ebenso wenig wie in Stuttgart. Und in ihrem Geburtsland, in Italien, ist die Oper sogar in das UNESCO-Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen worden und ist damit nun genauso viel wert wie die dort bereits gelistete Pizza. Sie lachen? Dann erinnern Sie sich an die Pandemiezeiten, in denen die Oper auf demselben Niveau wie Nagelstudio- oder Bordellbesuche gehandelt wurde.
So betrachtet fängt das neue Jahr durchaus mit frohen Neuigkeiten an! Ich wünsche Ihnen ein gutes, gesundes und opernreiches 2024!
Herzlich,
Ihr Ulrich Ruhnke