LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Sie halten die Bayreuther Festspiele für einen Ausbund an Zumutung? Das Rezipieren überlanger Opern in einem von der Hochsommersonne auf Höchsttemperaturen aufgeheizten Scheunensaal ohne Klimaanlage? Das Produzieren eben jener Werke als Sänger unter mehrere Kilos schweren Kostümen und dicker Schminke oder als Musiker im klaustrophobischen Orchestergraben unter der Bühne? Dann waren Sie noch nicht in der Arena di Verona! Auf den Steinstufen der billigen Kategorien ganz oben mag es als Zuschauer ja noch einigermaßen kommod und gemütlich hergehen (auch wenn man sein Picknick schon lange nicht mehr selbst mitbringen darf), auf den kindergartensitzgroßen Plätzen der gehobenen Preisklassen ließe es sich hingegen selbst ohne Arme und Beine nur schwerlich aushalten. Und wer sich als Mitwirkender bis zum Ende der Saison im September in dem viel zu engen, heillos überfüllten und mit tausendfachen Fußangeln und halsbrecherischen Treppen lauernden Backstagebereich des römischen Amphitheaters nicht die Knöchel gebrochen hat, dem gebührt ein eigener Triumphmarsch. Einschließlich der Solisten, denen hier, und seien sie noch so berühmt, dieselben mikroskopisch kleinen, stickigen Bretterverschläge zur Umkleide bereitsteht wie allen anderen auch.
Warum tun sich Künstler so etwas an, warum die Besucher? Die Kunstform Oper muss etwas Magisches haben, oder der Ort, an dem sie aufgeführt wird. Oder beides zusammen. In Bayreuth feiert man in drei Jahren 150-jähriges Jubiläum, in Verona ist man in diesem Sommer bei 100 angekommen – allerdings mit anderer Zählung, nämlich ausschließlich der Festspieljahrgänge. Wie alles anfing und was das Steinrund so besonders macht, erfahren Sie in unserem aktuellen Themen-Beitrag.
Die Oper als Festspiel, als dem Alltag enthobene, konzentrierten Zeit des Kunstschaffens und -betrachtens, ist ein ebenso altes Paar wie Oper und Freiluftaufführung. An der Staatsoper Stuttgart hat man aktuell Olivier Messiaens Saint François d‘Assise an die frische Luft gesetzt, zumindest teilweise, in jedem Fall aber ganz ohne die Möglichkeit zum vertieften Erleben. Durch die Erweiterung der Aufführung auf Spielorte außerhalb des Opernhauses wurde das gut vierstündige Werk auf acht Stunden gestreckt und blieb neben seiner regulären Arbeitstagdauer auch sonst im Irdischen stecken.
Dem tiefgläubigen Messiaen aber ging es um das Ganz-Andere, das Nicht-Darstellbare, das, was dem Menschen entgegenkommt. Doch mit Transzendenz und Jenseitigkeit tun sich viele Theaterschaffende heute schwer, sei es aus theologischer Unkenntnis, aus Unwillen oder aus Verwechslung ihrer Kunst mit politischem Aktivismus. „Und was hat das alles mit mir zu tun?“, ist die egozentrische Frage, mit der Opern gern auf ihre Nutzanwendung abgeklopft werden. Das Fehlen großer Teile des Repertoires der Vergangenheit auf unseren Bühnen hat auch mit diesem grundsätzlichen Missverständnis zu tun. Messiaen mit seinen modernen Klängen und seiner Hinwendung zur Natur bietet sich scheinbar vortrefflich für eine Säkularisierung zum klimabewegten Mahnappel mit anbiederndem Relevanzgehechel an. Also geht es in Stuttgart nach drei Bildern im Opernhaus hinaus in die Natur. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zum Killesberg gebracht, soll man sich beim Spaziergang in sengender Nachmittagshitze und unter Kopfhörer-Beschallung mit dem vierten Bild der Oper betroffen der Welt zuwenden. Funktioniert super! Das führt die Wandergruppe zielstrebig zur nächsten Station in der Freiluftbühne im Park, wo nicht nur Bild fünf und sechs auf sie warten, sondern vor allem die Wasserrationen. Opernfiguren, die aus Gebüschen auftauchen, zeigen, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt. Solchermaßen esoterisch bereichert, bekommt man zum anschließenden Vogelkonzert im Opernhaus noch volksschulhaften Biounterricht geboten (Vogelkunde!) sowie eine finale Libelle, die zum Himmel abhebt. Kitsch statt Erkenntnis.
Ich bin sicher, der Festspielsommer hält auch berührende, großartige Erlebnisse bereit! Ich wünsche Ihnen viele davon und eine gute Lektüre!
Herzlich,
Ulrich Ruhnke / Chefredakteur