LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
der Weg in den Sehnsuchtsort Zukunft, die Überwindung der irgendwie immer als unzureichend empfundenen Gegenwart scheint ebenso dauerthemenhaft über Öffnung und Erweiterung zu führen. Parolen wie „Grenzen überschreiten“, „Konventionen brechen“, „Strukturen überwinden“ sind zwar vor allem Plattitüden und Allzweckwaffen für ansonsten ratlose, sich aber modern geben wollende Intendanten, doch sie sind auch Methoden mit echtem Notwendigkeits- und Wahrheitskern.
Wenn heute einmal mehr im Zugzwang der Weiterentwicklung die Auflösung der Spartengrenzen eingefordert wird, die große inkludierende Durchmischung, dann klingt das in manchen Ohren vielleicht revolutionär und neu, doch ist es in Wirklichkeit schon längst erfundene Praxis. Beispielsweise die des 17. Jahrhunderts als Molière und Jean-Baptiste Lully für ihr gemeinsames Bühnenwerk Der Bürger als Edelmann Oper, Ballett und Theater solchermaßen miteinander zusammenbrachten, dass man manchmal nicht weiß, welche Gattung man hier vor sich hat. Die Verschränkung des einen mit dem anderen, die Unmöglichkeit einer genauen Zuordnung, die auch inhaltliche Fluidität zwischen Fremdartigem und Vertrautem sind Qualitäten, die heute stark gefragt sind und neu gelesen werden wollen.
Die nicht allzu häufige Gelegenheit zur Begegnung mit dem frühen Gesamtkunstwerk aus Schauspiel, Tanz, Musik und Gesang bietet ab Ende April die Oper Graz in Zusammenarbeit mit dem städtischen Schauspielhaus. Was den Zuschauer hierbei erwartet, erfahren Sie in unserer Nahaufnahme zur Produktion, die von Matthias Rippert inszeniert und Konrad Junghänel dirigiert wird.
Die Grenzen der theatralen Darstellung erweitern derzeit auch junge Videofilmer. Auf der Grundlage der inzwischen schon vor über 30 Jahren von Frank Castorf in dieser Form neu für die Bühne nutzbar gemachten Videotechnik entwickeln sie nicht nur die Bühnenästhetik weiter, sondern heben – wenn gut gemacht – mit ihren Möglichkeiten die gesamte Regie- und Inszenierungsarbeit auf eine neue Ebene. Was treibt die neue Generation von Videoartisten um, was sind ihre Ziele und Maximen? Die Techniken von 3D, Virtual und Augmented Reality stecken noch in den Kinderschuhen. Für unseren Themenbeitrag haben wir uns umgehört.
Kaum ein Sänger lässt sich derzeit so wenig in klare Kategorien einsortieren wie Michael Spyres. Bariton oder Tenor, Sänger oder Leiter einer Opernkompanie, Belcanto-Spezialist oder Wagner-Stimme? An welcher Stelle seines enorm weit gesteckten Tätigkeits- und Stimmspektrums der US-Amerikaner auch tätig wird – man hört und sieht mit Begeisterung hin. So auch jüngst bei den OPER! AWARDS in Amsterdam, wo Spyres als „Bester Sänger“ ausgezeichnet wurde und erstmals öffentlich „Mein lieber Schwan“ aus Wagners Lohengrin sang. Im März debütiert er mit der gesamten Partie im Rahmen einer Neuinszenierung an der Opéra national du Rhin in Straßburg sowie im Sommer als Siegmund erstmals bei den Bayreuther Festspielen. Dennoch: Um über Nacht zum Erfolg zu werden, braucht es mindestens 15 Jahre, verriet uns Spyres im Titelinterview für die vorliegende Ausgabe.
Und noch eine Ausnahmeperson der internationalen Opernlandschaft haben wir interviewt: Sophie de Lint. Geboren in Rotterdam, aufgewachsen in Genf und nach Tätigkeiten am Grand Théâtre de Genève, dem Opernhaus Zürich sowie im Agentur-Geschäft seit 2018 Direktorin der Dutch National Opera in Amsterdam. Auf die nicht nur dort drängende Frage, wie ein Opernhaus in einer modernen, diversen Stadtgesellschaft für Akzeptanz und Relevanz sorgen kann, hat sie die richtigen Antworten gefunden.
Soviel sei verraten: Horrende Eintrittspreise wie beispielsweise an der Semperoper Dresden gehören nicht zu den geeigneten Maßnahmen. Nicht weniger als 310 Euro kosteten hier die besten Karten für einen Repertoire-Tristan, u.a. mit Rollendebütant Klaus Florian Vogt, Camilla Nylund und unter der musikalischen Leitung von Christian Thielemann. Tolle Künstler, hört man gerne! Aber hat der Steuerzahler dafür nicht ohnehin schon gezahlt? Bei der Semperoper handelt es sich schließlich nicht um die privat finanzierten Osterfestspiele Salzburg. Die aktuell kräftige Anhebung der Ticketpreise auch an anderen Häusern wird der Oper nicht nur guttun. Da mögen die Inszenierungen noch so inkludierend angelegt sein, bei solch elitären Preisen bleiben potenzielle Neuzuschauer verständlicherweise weg. Der Hinweis auf ein kleines Kontingent günstiger Karten zieht nicht. Wer will auch als Normalverdiener nur auf den billigen Plätzen sitzen können?
Herzlich,
Ihr Ulrich Ruhnke