LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Frauen an die Front! Der Druck bei den Intendanten muss groß gewesen sein, als sie die gerade begonnene Spielzeit planten. Egal ob von außen oder selbst gemacht, fremde oder eigene Erwartungshaltungen erfüllend, nachfolgend oder vorauseilend: Eine Regisseurin musste es sein! Die Frauen haben viel nachzuholen, denn sie wurden in dem männlich dominierten Beruf viel zu lange wenig beachtet. Gut also, dass sie seit Jahren immer häufiger Gelegenheit zu künstlerischer Arbeit bekommen, aber wohl selten so gehäuft wie zu Beginn dieser Spielzeit.
Die Bilanz: Regisseurinnen können es grundsätzlich auch nicht besser als ihre männlichen Kollegen. Zielen manchmal ins Schwarze, oftmals aber auch daneben. Katja Czellnik etwa dürfte mit ihrer Entführung aus dem Serail an der Oper Bonn bereits jetzt für das szenische Desaster der Saison gesorgt haben. Auch die Opern-Neueinsteigerin Henriette Hörnigk hat mit ihrem Lohengrin für das Staatstheater Wiesbaden einen Flop gelandet, ebenso die 23-jährige Emily Hehl, der die neue Intendantin des Aalto-Musiktheaters, Merle Fahrholz, sogar die Eröffnungspremiere ihrer ersten Spielzeit anvertraut hat: Verdis Macbeth.
Erstaunlich, wer da auch beim weiteren Blick auf die bundesdeutschen Spielpläne derzeit ans Regiepult gelassen wird: jung und unerfahren oder älter und aus gutem Grund lange nicht mehr beauftragt, gänzlich opernfremd, manchmal der Oper gar ablehnend gegenüberstehend – aber zumindest weiblich. Selbst in die Jahre gekommene Intendanten, die früher nie von selbst darauf gekommen wären, Frauen zu fördern, wollen sich modern zeigen und beugen sich der Quote. Doch die ist selten eine gute Wahl, und Begabung hat nichts mit dem Geschlecht zu tun. Anstatt der einen nun die andere Gruppe zu bevorzugen, ist keine gute Lösung. Mancher Nachwuchsregisseur berichtet sogar von Diskriminierung aufgrund seines Geschlechts und sieht sich als Teil einer verlorenen Generation junger männlicher Regiearbeiter. Die Besinnung auf Qualität als zentrales Auswahlkriterium für ein künstlerisches Engagement wäre hier sicher hilfreich.
Was sind berechtigte, gar unbedingt notwendige gesellschaftliche Veränderungen, und wie erreicht man sie? Was ist opportunistisches Zeitgeistsurfen, nicht selten auch in Ermangelung einer eigenen Meinung und festem Rückgrat? Ein weites Thema, dem wir uns im aktuellen Schwerpunktartikel nähern wollen. Die politische Zensur kennt die Oper schon lange, nicht minder gefährlich ist die Selbstzensur, die oft verdeckt, manchmal aber auch ganz offensichtlich, aus dem Opernbetrieb heute ein braves Hündchen macht. Gerade dieser aber sollte gegenüber dem gesellschaftlich gängig gewordenen reinen Schlagwortabtausch nicht resigniert die Waffen strecken, sondern auf echte Debatten bestehen und sie auch aushalten.
Wie stark diese Themen menschliche Kernthemen sind, die es zu jeder Zeit, nur in veränderter Form gegeben hat und gibt, zeigen auch unsere Besprechungen der ersten Premieren der neuen Saison und der letzten Festspielproduktionen. Wer über den Menschen gestern und heute etwas lernen will, der muss in die Oper gehen.
Herzlich,
Ihr Ulrich Ruhnke