LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Noch vor zwei Monaten war es ein Ding der Unmöglichkeit: Aribert Reimanns großorchestriger Lear, Wagners ebenfalls nicht klein besetztes Rheingold oder Puccinis klangmonströse Fanciulla del West in ungekürzten Originalfassungen szenisch dargeboten vor Publikum! Doch kurz vor der Spielzeitpause wurde das nur vage Erhoffte real (lesen Sie hierzu unsere Kritiken im vorliegenden Heft). Der Vorhang ging hoch, kaum dass die Coronapolitik es erlaubt hatte – und brachte uns nicht nur das lang vermisste Live-Erlebnis zurück, sondern auch die Einsicht in die Widersprüchlichkeit, Symbolhaftigkeit und auch Übertriebenheit mancher Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen. Gleich dreifach gesichert ist der Opernbesuch: Zutritt nur im offiziell nachgewiesenen Status des vollständig Geimpften, Genesenen oder negativ Getesteten (mit ergänzender Personalausweiskontrolle), dazu – natürlich – das verpflichtende Tragen einer FFP2-Maske während der gesamten Aufführung und außerdem die Platzierung in weitem Abstand, was im Durchschnitt maximal eine Drittelauslastung der Zuschauerkapazität zulässt.
Bayern genehmigte sogar – verstehe es, wer will – innen mehr Zuschauer als draußen. Der Freistaat bleibt besonders. Noch zum Redaktionsschluss wusste man in Bayreuth nicht, wie viele Zuschauer an einer Festspielaufführung teilnehmen dürfen. Bis zum 4. Juli wollen sich die Ämter Zeit lassen, erst dann beginnt der Vorverkauf – exakt drei Wochen vor der Eröffnungspremiere und viel zu spät für (international) anreisende Gäste, die man hierdurch im Grunde komplett aussperrt; sofern sie nicht schon für die abgesagten Festspiele 2020 gebucht hatten und dadurch eine bevorzugte Kartenzuteilung für dieses Jahr erhalten. Die Salzburger Festspiele sind hier, wie schon im letzten Jahr, einen großen Schritt voraus. Karten sind längst zu haben, Festspielgäste können ihren Aufenthalt in Ruhe planen und ihre Reise buchen. Es geht also auch weniger panisch.
Das Problem der Platzkapazität wird uns auch in der nächsten Spielzeit noch lange begleiten. Selbst wenn man annehmen darf, dass der Spielbetrieb wieder aufgenommen wird, so kann doch gegenwärtig niemand sagen, wie viele Zuschauer erlaubt sein werden. Entscheidungen mit Augenmaß sind gefragt, auch in den USA. Für unseren Themenbeitrag haben wir mit den Verantwortlichen in New York, San Francisco und Houston gesprochen. Hoffnungsfroh schaut man dort auf den Herbst, in dem man allerdings sicherheitshalber vielfach noch gekürzte Fassungen zeigen will oder sie zumindest in der Hinterhand behält, falls sich die Lage nicht wie gewünscht entwickelt. Doch immerhin: Boris Godunow steht in New York aktuell auf dem offiziellen Spielplan für Ende September, ebenso wie Terence Blanchards Fire Shut Up In My Bones, die erste Premierenproduktion eines afroamerikanischen Komponisten an der Met überhaupt. Die Programmierung ist nicht zuletzt eine politische Entscheidung des Hauses, das seit Anfang des Jahres auch einen Diversitätsbeauftragten beschäftigt. Das Thema lässt sich nicht mehr ignorieren, vor allem nicht in Ländern, die noch sehr viel multiethnischer geprägt sind als Deutschland, Österreich und die Schweiz.
In Amsterdam etwa sieht sich Sophie de Lint, die neue Intendantin der Niederländischen Nationaloper, durchaus sehr nachdrücklich vor die Frage gestellt, für wen sie eigentlich ihr Programm macht. Wer das Straßenbild der niederländischen Hauptstadt vor Augen hat, wird verstehen, dass hier anders agiert werden muss als etwa in München oder Zürich. Doch lesen Sie mehr dazu in unserem Interview mit de Lint.
Wie ungeübt unser Umgang mit Themen wie Diversität und Rassismus in der Oper ist, zeigt nicht nur die aktuelle Feuilletondebatte in den USA über einen (vermeintlich oder tatsächlich) zu weißen Werkkanon, sondern auch das unsouveräne Einknicken der Scottish Opera vor der kritischen Bemerkung eines unbekannten ostasiatischen Komponisten. Dieser bezichtigte die Opernkompanie auf Twitter des „yellowfacing“ und der Besetzung asiatischer Rollen mit weißen Sängerinnen und Sängern. Die Scottish Opera gab daraufhin allen Ernstes die Nominierung ihrer Inszenierung von Nixon in China für einen Kulturpreis zurück. Die Produktion war der Anlass der Komponisten-Schelte gewesen.
Was geht, was geht nicht, was ist rassistisch, was nicht, wie kann der Umgang mit einem wertvollen musikalischen Erbe aus einer Zeit aussehen, in der anders gedacht wurde als heute? Die Frage wird über viele Einzelfälle in der Zukunft erst noch zu klären sein. Sie darf nur nicht alles andere überlagern oder gar vergessen und unmöglich machen, was die Oper wesentlich ist, nämlich das sprichwörtliche Kraftwerk der Gefühle.
Ich wünsche Ihnen einen anregenden Festspielsommer und eine erholsame Sommerfrische!
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke