LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Erstmals seit 20 Jahren hat die Musikindustrie in Deutschland durch Verkäufe von CDs, Vinyl- LPs, Downloads und das Streaming-Geschäft wieder einen Umsatz von über 2 Milliarden Euro erwirtschaftet. Eine erfreuliche Zahl, die belegt, dass im viertgrößten Musikmarkt der Welt (nach den USA, Japan und dem Vereinigten Königreich) die Menschen in Deutschland oft und gerne Musik hören – und dafür auch zu zahlen bereit sind (was für die ausübenden Künstler von existenzieller Bedeutung ist). Allerdings interessieren sich nur 1,8 Prozent von ihnen für Klassik, alle anderen bevorzugen die übrigen Musikgenres, vor allem internationalen Pop.
Eine weitere, wenn auch längst bekannte und nur erneut bestätigte Erkenntnis der jährlichen Statistik des Bundesverbands der Musikindustrie: Klassikliebhaber sind im Durchschnitt nicht mehr die Jüngsten. Zur Klassik, darunter auch die Oper, finden viele Menschen erst im fortgeschrittenen Alter. Das ist nicht weiter schlimm, es muss ja nicht jedes musikalische Angebot dieselbe junge Altersgruppe ansprechen. Bedenklich wird es nur, wenn die späte Klassikzuneigung nicht mehr aktiviert werden kann, weil niemals eine positive erste Begegnung mit dieser Musik vorangegangen ist, wie lange diese auch her sein mag. An einen Bezugspunkt, der irgendwann einmal gelegt wurde, lässt sich auch noch Jahrzehnte später anknüpfen. Wie aber soll das möglich sein, wenn es an den Schulen zunehmend keinen Musikunterricht mehr gibt und damit für Kinder und Jugendliche aus nicht-klassikaffinen Elternhäusern die Chance schrumpft, mit Klassik überhaupt in Berührung zu kommen? Sofern ein Musikunterricht stattfindet, so das Ergebnis einer aktuellen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung, wird er zu etwa 50 Prozent fachfremd erteilt. In Bremen schafft man nicht einmal das und hat den Musikunterricht gleich komplett entsorgt. Unter dem Etikett „Ästhetische Fächer“ darf man zwischen Musik, Kunst und Sport (!) wählen und damit die Musik auch ganz sein lassen, wenn man will. Die Opernhäuser werden in Zukunft noch mehr als bisher ihre Education-Programme ausweiten müssen, um auch nur ansatzweise für einen Ausgleich zu sorgen.
Vielleicht findet der ein oder andere Musikinteressierte über die App zur Oper. Endlich hat Apple eine Klassik-App auf den Markt gebracht, die den vom Pop- Bereich wesentlich abweichenden Suchfunktionen und Nutzungsbedürfnissen weitgehend gerecht wird und allein aufgrund der Marktmacht des Anbieters das Zeug zum Game-Changer hat. Was die App kann und wie sie sich im Vergleich zu bestehenden Anbietern schlägt, erfahren Sie in unserem Themenbeitrag.
Wie viele Menschen haben durch Anna Netrebko zur Oper gefunden? Sicherlich etliche. Wie vielen ist sie ein Dorn im Auge? Inzwischen wohl ebenfalls nicht wenigen. Doch was ist passiert? Als Russland die Ukraine überfiel und schlagartig alle russischen Künstler, ob toter Komponist oder lebender Sänger, kritisch beäugt wurden, stand die derzeit wohl berühmteste aktive Sopranistin der Welt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es kursierte ein altes Foto von 2014, das Netrebko mit dem ukrainischen Separatistenführer Oleh Zarjow zeigt, auch ihre früheren Treffen mit Wladimir Putin wurden ihr nun vorgehalten. Die Frage, auf welcher Seite sie eigentlich steht, wurde plötzlich aufgeworfen. In einem vom Anwalt formulierten, für viele nur halbherzigen und zu spät veröffentlichen Statement verurteilte sie schließlich den Krieg. Europäische Opernhäuser setzten ihre Engagements vorübergehend aus (die Met in New York hat sich dauerhaft von ihr getrennt), in Russland darf sie aber auch nicht mehr auftreten.
Den etwa 300 (ukrainischen) Demonstranten, die sich Anfang Mai am Abend von Netrebkos konzertantem Rollendebüt als Abigaille in Verdis Nabucco vor dem Staatstheater Wiesbaden versammelt hatten, „Schande!“ riefen, die ukrainische Nationalhymne sangen und Schilder mit Aufschriften wie „No-Netrebko“ hochhielten, reicht das natürlich nicht. Doch auch andere werden nicht mehr recht glücklich mit der Künstlerin, die durch ihre Kunst angeblich nur Frieden und Einigkeit anstrebt. Doch genau davon ist wenig zu spüren. Auf Instagram präsentiert Anna Netrebko unverändert ihr spaßiges Luxusleben zwischen Nobelhotels und Edelboutiquen. Von einem Bemühen, Menschen durch ihre Kunst über politische Grenzen hinweg zu vereinen, ist nichts zu erkennen, kein Wort, keine Tat. Eine kleine Geste würde schon reichen. Hinter der offiziellen „Vissi d’arte“-Haltung der Künstlerin offenbart sich eine bestürzende Empathielosigkeit, die Interesse nur am eigenen Hedonismus zu haben scheint. Das macht ihr politisches Schweigen auf einer anderen Ebene unsympathisch. Auch künstlerisch vermag sie nicht mehr ganz zu überzeugen. Es hat unverändert etwas Monströs-Imposantes, wenn sie singt, doch die Stimme ist auseinander gegangen, hat Form und Fokussierung eingebüßt, Flexibilität und Koloraturfähigkeit, die Tiefe ist breit – und derb. Die große Auftrittsszene der Abigaille hatte sie merklich gut studiert, doch schon für eine Ensemblenummer musste sie wieder die Noten zur Hilfe nehmen. Auch das ist nicht unbedingt ein Zeichen ernsthaften Kunstwillens. Eher der einer Tonlieferantin gegen Geld, die sonst mit nichts zu tun haben möchte. Das ist ihr gutes Recht. Doch bleibt ein fader Beigeschmack.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und verbleibe mit herzlichen Grüßen
Ihr,
Ulrich Ruhnke / Chefredakteur