LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Er war ein Gigant, so etwas wie der Urvater dessen, was man heute in Deutschland mit dem Begriff „Regietheater“ und außerhalb davon als „Eurotrash“ bezeichnet. „Trashig“ waren die Inszenierungen von Hans Neuenfels allerdings nie. Dafür präsentierten sie sich viel zu aufgeräumt und haargenau kalkuliert – auch optisch in den hochglanzpolierten Bühnenbildern des künstlerischen Dauer-Begleiters Reinhard von der Thannen. Dieser war es auch, der die berühmten Ratten schuf, die in Neuenfels‘ Bayreuther Lohengrin über die Bühne tippelten, ebenso wie die sensationellen Schwanenkleider, in denen sich Elsa und Ortrud wie aufgebrachtes Federvieh gegenseitig angifteten. Große, klare Bilder schaffen, manche davon für die Ewigkeit (Aida als Putzfrau) – das konnte Hans Neuenfels ohne Zweifel. Im Februar ist der 80-jährige Wahlberliner gestorben. Selbstredend, dass Sie in der vorliegenden Ausgabe einen ausführlichen Nachruf auf ihn lesen können.
In den letzten Jahren beklagte Neuenfels die zunehmende Unklarheit vieler aktueller Regiearbeiten, sowohl gedanklich-interpretatorisch, als auch im Hinblick auf ihre ästhetische Zeichensprache, die zu oft unartikuliert und verschwommen bliebe. Was er damit meinte, konnte man jüngst am Staatstheater Kassel beobachten, wo Regisseur Ersan Mondtag vor dem schwierigen Ende des Freischütz kapitulierte. Viel Buntes, Schräges, Schrilles ist in dem Abend, aber klare Gedanken, wie man das Finale sinnhaft ins Heute überführt, die fehlen. Dafür werden Themen geritten, die allzu nahe liegen und bei all ihrer unbestrittenen Relevanz die Frage aufwerfen, ob das Werk hier interpretiert oder instrumentalisiert wird – für politischen Aktivismus. Schon eine Woche zuvor führte Axel Ranisch das Publikum seiner Hänsel und Gretel-Inszenierung an der Staatsoper Stuttgart in einen mit wild entsorgten Ölfässern vermüllten, später brennenden, keinesfalls aber romantisch rauschenden Wald. Und bei Ersan Mondtag sind es kettensägende Holzfäller und eine gefräßige Asthäckselmaschine, die uns in ohrenbetäubender Lautstärke die Schändung der Natur vorführen sollen (an der Staatsoper Stuttgart war es nach dem Rheingold im November gleich der nächste Klima-Protest, der als Inszenierung getarnt auf der Bühne zu sehen war). Weitere Gedanken zum Stück? Kaum vorhanden! Doch lesen Sie selbst die Kritiken zu den beiden Produktionen in diesem Heft.
So politisch wie derzeit war die Oper noch nie, könnte man meinen. Hans Neuenfels würde dem wahrscheinlich widersprechen, er verstand wohl etwas ganz anderes darunter. Klar ist aber, dass die Oper derzeit in erneutem Diskussionsfokus steht, schon allein deshalb, weil etliche nach dem Krieg neu errichtete Musiktheater nur lausig instandgehalten wurden und längst vor einer Generalsanierung oder einem kompletten Neubau stehen. Und weil Architektur immer auch gebautes Statement ist, steht zugleich nicht weniger als Sinn und Zweck der Oper zur Debatte. Fachleute unterschiedlicher Disziplinen haben sich kürzlich im Rahmen von Online-Lectures darüber ausgetauscht, welche Eigenschaften ein Musiktheatergebäude haben muss, um den Anforderungen künftiger Gesellschaften zu genügen. Über die Ergebnisse berichten wir in der vorliegenden Ausgabe.
Ob die Oper sich in der laufenden Debatte vielleicht allzu leicht für politische Zwecke vor den Karren spannen lässt und welche Folgen das für ihre künstlerische Qualität und vor allem Unabhängigkeit hat, wäre allerdings noch einmal gesondert zu fragen. Denn klar ist auch, dass die Notwendigkeiten einer über 400 Jahre alten Kunstform nicht immer reibungslos mit den Absichten mancher Kunstplaner mit Politambitionen einhergehen.
Ist also alles nur düster und mit Skepsis zu betrachten? Keineswegs! Am Royal Opera House Covent Garden etwa hat man – wahrscheinlich erstmals für eine Opernproduktion in Großbritannien – eine „Intimacy- Koordinatorin“ beauftragt. Sie kümmert sich darum, dass Szenen mit offensiver Gewalt oder Sexualität (beides nicht selten in der Oper) für die Darsteller in akzeptabler Weise ablaufen. Hier hinken die Produktionsbedingungen der alten Tante Oper jener des Films etwa noch fast überall Meilen hinterher. Gut, dass man beginnt aufzuholen. Und auch sonst ist von viel Positivem zu berichten. Der Blick auf die neuesten internationalen Premieren macht vielfach große Freude. Doch lesen Sie selbst!
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke