LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Medea, Norma, Tosca. Sängerinnen, deren Stimme zu diesen Partien drängt, haben es oft schwerer als ihre Kolleginnen. Die Rollen sind fordernd, zweifelsohne. Aber noch schwerer lastet das Erbe der großen Griechin auf ihnen. Maria Callas, die am 2. Dezember dieses Jahres ihren 100. Geburtstag feiern würde und insofern durchaus noch unter uns weilen könnte, ist zwar schon über 45 Jahre tot, ihr künstlerisches Vermächtnis aber ist ungebrochen lebendig und ihre Interpretationen insbesondere der genannten Partien wie in Stein gemeißelte Gebote für die Nachwelt.
Das muss nicht immer nur von Vorteil sein, wenn das einzige Kriterium ist, inwieweit aktuelle Rollenvertreterinnen dem gleich- oder auch nur nahekommen – ohne als Zuhörer und -schauer offen zu sein für eine neue oder einfach andere Interpretation. Selbstverständlich, in den gar nicht so vielen Jahren, in denen Maria Callas so überirdisch war, wie viele heute denken, dass sie es stets und immer war, hat sie Maßstäbe gesetzt und gezeigt, was Singen bedeutet: klar artikulierter Text auch in den musikalisch absurdesten Steillagen, transportiert in Tönen, von denen jeder eine Bedeutung hat. Man möchte gar sagen, Callas konnte gar nicht den Mund aufmachen, ohne dass in ihrem Klang nicht zugleich auch eine Seelenstimmung oder ein Gedanke mitschwang. Ein Geschenk des Himmels, zum Blühen gebracht auf der Basis einer nur scheinbar wie selbstverständlich vorhandenen Stimmbeherrschung. Zur Meisterschaft vereint wurde das Vokale mit einer szenischen Rollenaneignung und -verkörperung, die den Zuschauer regelrecht ansprang (und derer man heute eben ob ihrer Intensität wohl fast abwehrend gegenüberstünde). Sowie einer Bühnenerscheinung und -präsenz, wie man sie nur äußerst selten findet.
Ganz schön viel also, was da so einzigartig zusammenkam und als Bewertungshintergrund mitschwingt, wenn eine Sängerin sich heute an klassische Callas- Partien wagt. Die US-amerikanische Sängerin Sondra Radvanovsky etwa tut dies überwiegend erfolgreich und scheut auch nicht davor zurück, eine Extrem-Partie an die andere zu reihen. Im Juni singt sie nun erstmals auch die Turandot auf der Bühne (bislang nur für die CD-Aufnahme bei Warner) – eine Partie, in der Callas ebenfalls gezeigt hat, dass Singen nicht nur in der perfekten Platzierung von Tönen besteht, sondern diese auch – wie hier der Fall – bei Bedarf das Blut in den Adern gefrieren lassen müssen. „Straniero, ascolta!“
Eine andere Sängerin, die im Callas-Teich fischt, ist Anna Pirozzi. Ende April gab die Italienerin ihr Rollendebüt als Medea an der Griechischen Nationaloper in der Übernahme-Premiere eben jener Inszenierung von David McVicar, die im vergangenen Jahr an der Metropolitan Opera New York mit Sondra Radvanovsky herauskam. Im Mai nächsten Jahres steht für die 48-jährige Neapolitanerin dann die Norma am traditionsreichen Teatro di San Carlo in ihrer Heimatstadt auf dem Programm (gefolgt von Turandot-Vorstellungen in der Wiederaufnahme am Opernhaus Zürich). Warum sie sich dennoch nicht mit Maria Callas vergleichen will, was sie von Montserrat Caballé gelernt hat und warum Italiener anders singen – darüber haben wir uns mit Pirozzi für die vorliegende Ausgabe unterhalten.
Einen mindestens so großen Einfluss wie auf bestimmte Rollenporträts und spätere Bühnenkünstler hatte Maria Callas auch auf das Belcanto-Repertoire. So richtig sind die Werke dieser Epoche erst durch sie wieder auf die Spielpläne gekommen, wenngleich bis heute gerne Vorurteile gegen diese Art der Oper gepflegt werden: reiner Schönklang, Gesangsakrobatik und ein nicht mehr zeitgemäßes Frauenbild, das das weibliche Geschlecht stets als Opfer inszeniert. Lisette Oropesa, unsere Coverkünstlerin im März und aktuelle Rollenvertreterin der Lucia di Lammermoor an der Mailänder Scala (lesen Sie auch die Rezension dazu im vorliegenden Heft) ist hingegen der Ansicht, dass diese Sichtweise nicht korrekt sei. In besagten Opern gäbe es mindestens eine Szene, in der die zentrale Frauenfigur gegen ihr Schicksal aufbegehre. Und selbst wenn sie am Ende unterginge, dann läge das an der Gesellschaft und nicht daran, dass sie selbst versage oder sich still duldend in ihr Schicksal fügen würde. Die Frauen stürben, ja. Aber stets mit einem lauten Schrei der Anklage.
Eine Neubewertung vermeintlicher Opferrollen von Frauen in der Oper fordert auch Barbara Vinken, die in ihrem neuen Buch Diva: Eine etwas andere Opernverführerin die Perspektive zeitlich noch größer zieht und mit anderem Blick zu anderen, neuen Ergebnissen kommt. Doch lesen Sie mehr dazu in unserem Themenbeitrag, für den wir mit Vinken gesprochen haben.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und verbleibe mit herzlichen Grüßen
Ihr,
Ulrich Ruhnke