LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
egal wohin man sich wendet, ob nach links oder rechts, von beiden Seiten wird regelmäßig der Untergang der Welt ausgerufen. Auch im Bereich der Oper. Die Ultras der Konservativen pochen schon bei der zartesten regietheaterlichen Befragung auf die sogenannte Werktreue (meistens ohne zu wissen, was genau das eigentlich sein soll), die selbsternannte Avantgarde, die mit herkömmlicher Oper und – Achtung: Triggerwort! – schönen Stimmen sowieso wenig anfangen kann, droht gerne aus dem Selbstgefühl der intellektuellen Überlegenheit damit, die Oper werde im Museum landen, wenn man ihrem Weg nicht folgt. Das Narrativ ist gut etabliert, hat durchaus Bisskraft, denn wer möchte schon gerne als museal gelten?
Es wird Zeit, sich von dieser falschen Scham zu befreien und das Narrativ als das zu durchschauen, was es ist: ein Popanz, eine künstlich hergestellte Bedrohung, die als Totschlagargument ihrem Nutzer freilich ein herrlich hilfreiches Werkzeug ist. Schaut man sich an, wo es besonders gerne in die Hand genommen wird, so lässt sich der Eindruck nicht leugnen, dass oftmals genau hier das wenigste Publikum zu finden ist. Bestimmt nicht museal im Sinne des Vorwurfs bedeutet meistens auch bestimmt nicht ausverkauft. Ganz im Gegensatz übrigens zu echten Museen, die – nicht nur mit Ausstellungen der Moderne, sondern auch der Alter Meister – oftmals wesentlich bessere Ticketverkäufe als die Oper vorzuweisen haben. Geradezu verwunderlich, dass die versammelten Museumsdirektoren noch keine gemeinsame Pressemitteilung gegen die diskreditierende Schimpfwort-Verwendung des Museum-Begriffs in der Oper herausgegeben haben.
Ausgerechnet Tobias Kratzer, bewundert für seine innovativen modernen Regieansätze und neuer Intendant der Staatsoper Hamburg ab der bevorstehenden Spielzeit, überträgt nun als Erster ein Prinzip aus der Museumsarbeit strategisch auf die Oper. „Framing the Repertoire“ nennt er den inhaltlichen Rahmen, in dem Opernwerke und -inszenierungen kontextualisiert und ihre aus heutiger Sicht problematischen Stellen thematisiert werden sollen. Bedenkt man, dass andernorts Werk- und Regiesorgenkinder geändert, umgeschrieben oder ganz aus dem Programm genommen werden, ist der Hamburger Umgang damit ein bemerkenswerter Schritt aus der Cancel Culture und quasi ganz nebenbei die offizielle Anerkennung der Regie als das, als was sie sich selbst längst versteht: eine eigenständige Kunstform mit Kuratierungswert. Ob die Programmlinie gelingt, werden wir beobachten und in einer späteren Ausgabe hinterfragen. In der vorliegenden finden Sie zunächst einmal unseren Themenbeitrag dazu, warum Oper mehr Museum wagen sollte, sowie ein Interview mit Tobias Kratzer über den umstrittenen Opernhaus-Neubau in Hamburg.
Sicherlich nicht im Verdacht museal zu sein, steht der Eurovision Song Contest und die bei ihm dargebotene Pop-Musik. Angesichts des diesjährigen Gewinners, des 24-jährigen, auch an der Wiener Staatsoper ausgebildeten Countertenors Johannes Pietsch – mit Künstlernamen „JJ“ – stellt sich die Frage, ob mit ihm nicht in gewissem Sinne ein Höhepunkt des Einflusses der Oper auf den Pop zu verzeichnen ist – der freilich eine sehr viel längere Geschichte hat und auf eine geheime Geschwisteridentität von Pop und Oper verweist, die sich nicht nur im Musikalischen zeigt. Auch hierzu finden Sie einen Beitrag im vorliegenden Heft, ebenso wie Interviews mit dem 32-jährigen Konstantin Krimmel, Münchens neuem Don Giovanni, Miina-Liisa Värelä, Bayreuths neuer Ortrud, sowie Ariunbaatar Ganbaatar, der aktuell als Verdi-Bariton international auf sich aufmerksam macht.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und eine erfrischende Festspielzeit!
Ihr
Ulrich Ruhnke