LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Vor gerade einmal gut zwei Jahren, am 21. September 2019, überreichten wir im Konzerthaus Berlin Edita Gruberová den OPER! AWARD für ihr Lebenswerk. In ihrer Dankesrede schilderte die gebürtige Slowakin auch, was ihr durch den Kopf ging, als sie die Nachricht vom Preis erhielt: „Ist es schon so weit, bin ich wirklich schon so alt?“. Die Überraschung und auch den leichten Schmerz, der hierin mitschwang, glaubte man ihr sofort. Über 51 Jahre hatte Edita Gruberová zu dem Zeitpunkt schon auf der Bühne gestanden und an ein echtes Aufhören mochte sie wohl nicht so richtig denken. Sie sang noch in einem Alter, in dem andere Sängerinnen und Sänger schon längst nicht mehr oder nur noch schlecht singen, oder ins Charakterfach geflüchtet sind. Auch Gruberová hatte 2019 ihren stimmlichen Zenit natürlich überschritten, doch wie sie selbst mit über 70 Jahren noch die großen Partien des Belcanto-Fachs zu gestalten wusste, zeugte von einem lebenslang gesunden Umgang mit der Stimme und einer stupenden Technik – was einschließt, dass sie diese noch im fortgeschrittenen Alter grundlegend änderte. Das war ihre Basis für die folgenden Jahre.
Die Koloratursopranistin aus Bratislava war ein stimmlicher Solitär und noch voller Pläne. Direkt am Tag nach den OPER! AWARDS flog sie zu Konzertauftritten nach China, vorher aber, zum Umsteigen, mit der Sechsuhr-Maschine von Berlin nach Zürich. Die zierliche Frau mit der Jahrhundertstimme war durchaus mit einer gewissen robusten Belastbarkeit gesegnet, ebenso wie mit einer Sehnsucht nach der Bühne, die ihr Leben war. Am 27. März 2019 verabschiedete sich Gruberová offiziell mit einer letzten Elisabetta in Roberto Devereux von der Opernbühne. Ausgewählt hatte sie dafür eines ihrer Stammhäuser, die Bayerische Staatsoper, wo sie seit ihrem Debüt als Königin der Nacht im Jahr 1974 in 308 Vorstellungen zu hören war. Doch Edita Gruberová konnte es nicht lassen. Für November 2020 hatte sie sich nochmal zwei (aller-?)letzte Elisabettas in Košice in ihrem Heimatland in den Kalender schreiben lassen. Aber wie fast überall, machte auch hier Corona den Spielbetrieb unmöglich, die Vorstellungen fielen aus. Am 18. Oktober 2021 ist Edita Gruberová im Alter von 74 Jahren nun in Zürich unerwartet gestorben. Zur Erinnerung bringen wir ein bislang unveröffentlichtes Interview mit ihr, der letzten Assoluta.
Was hätte Edita Gruberová wohl zum Start der neuen Intendanz von Florian Lutz am Staatstheater Kassel gesagt? Neben Wozzeck als erste Premiere – was angesichts der nahezu unkaputtbaren Stärke des Werks als eine Wahl auf Nummer sicher gelten darf – folgte Tosca gleich am Tag darauf als zweite Premiere. Beide Inszenierungen spielen in der „Pandaemonium“ genannten Raumbühne von Sebastian Hannak. Eine Gerüstkonstruktion, die das Orchester in die Mitte des Spiels nimmt und eine technische Verstärkung der Sänger nötig macht. Mit solchermaßen brachialen Mitteln ist es natürlich denkbar einfach, eine andere Art von Musiktheater zu machen, die aber wenig anderes als eine billig erkaufte Pseudoinnovation ist. Wenn zwei der zentralen Wesensmerkmale der Oper, nämlich die Stimme eben nicht verstärken zu müssen und die frontal konzipierte Wirkrichtung des Orchesters, einfach negiert werden, eröffnen sich ganz automatisch unzählige Wege der theatralen Weiterentwicklung. Wo man sich aber selbst des gattungsspezifischen Maßstabs beraubt, nivelliert sich auch die künstlerische Schöpfungshöhe in der Beliebigkeit des individuellen willkürlichen Umgangs mit dem Ausgangsmaterial. Über Eventcharakter, das muss man zugestehen, verfügen solche Abende in jedem Fall, ebenso wie über erheblichen Überwältigungsbombast, dem man sich mit genießender Betroffenheit hingeben kann. Solcherlei akzeptierend, kann man durchaus einen abwechslungsreich-unterhaltsamen Abend haben. Doch lesen Sie dazu mehr in unserem Premierenbericht.
Spannender scheint der Ansatz zu sein, den man derzeit an der Oper Dortmund verfolgt. Im Rahmen des auf mehrere Jahre angesetzten „Wagner Kosmos“ werden kompositorische Verbindung zu und von Richard Wagner aufgezeigt, die dem Zuschauer so nicht unbedingt klargewesen sein dürften. Wer kennt schon Frédégonde? Ab Ende November spielt man die fünfaktige Grand Opéra von Guiraud, Dukas und Saint-Saëns, prominent besetzt u.a. mit Sergey Romanovsky. Was man genauer von dem Werk und der Produktion erwarten kann, erfahren Sie in unserer „Nahaufnahme“.
Einen ausführlichen Blick werfen wir in diesem Monat auch auf die Gattung des Kunstlieds. Regelmäßig als uncool, schwer vermittelbar und aussterbend abgetan, hat das Lied längst auch in der jungen Sängergeneration Freunde und prominente Vertreter gefunden. Mit sechs der bedeutendsten von ihnen haben wir uns zu einem ausführlichen Gespräch getroffen. Sie finden es im vorliegenden Heft ebenso wie unser Interview mit dem Ausnahmebariton Ludovic Tézier und die Berichte über Asmik Grigorians Jenůfa-Debüt an Covent Garden und die Wiedereröffnung der Metropolitan Opera nach über 18 Monaten.
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke