LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
In seiner Ausschreibung zum Dirigentenstipendium ruft das London Philharmonic Orchestra die Bewerber dazu auf, ihre Eignung zu beschreiben und weist darauf hin, dass diese auch eine besondere Geschlechtsidentität, Rasse, sozioökonomische Hintergründe, Neurodiversität, Behinderungen oder besondere Bildungsbedürfnisse umfassen kann. Ziel des Programms – so die Verantwortlichen – sei es, zwei aufstrebenden Musikern, die sonst möglicherweise von der regulären Orchesterpraxis ausgeschlossen wären, Ausbildungs-und Dirigiermöglichkeiten zu geben. Man wolle hierdurch Vielfalt und Inklusion im Klassikbetrieb fördern.
Das sind, zweifelsohne, hehre und ehrenwerte Ziele. Und doch haftet dem Programm, dem man Ernsthaftigkeit und Engagement durchaus zu bescheinigen geneigt ist, ein Geschmack von Verzweiflung an. Die darin besteht, die eigene Existenz mit immer weiter gefassten außermusikalischen Argumenten rechtfertigen und diese zugleich wie einen PR-Coup verkünden zu müssen. Einfach nur gute Musik machen, das reicht schon lange nicht mehr, auch nicht den gerade in England für die Kulturförderung so wichtigen Sponsoren, die sich gerne modern und gesellschaftlich engagiert zeigen wollen. „Leistung aus Leidenschaft“ war einmal der inzwischen abgeschaffte Slogan der Deutschen Bank und zugleich jahrelang der inhaltliche Anknüpfungspunkt für das Engagement der Bank bei den Berliner Philharmonikern. Heute wäre ein solches Kurzschließen wohl undenkbar, die Parameter haben sich verändert, doch ist längst nicht ausgemacht, mit welchem Vorteilsgewinn für die Branche.
Oper, so ein Glaubensgrundsatz, muss mehr sein als Oper, muss sich am Umbau der Gesellschaft beteiligen. Zu tun hat diese Sichtweise auch mit der immer größer werdenden Kulturferne von Politikern, die herzlich wenig mit der Kunstform anfangen können und sie deswegen mit Erwartungen und Aufgaben beladen, für die sie eigentlich gar nicht geschaffen ist. Selbst Opernintendanten und Opernregisseure sind der Oper nicht immer nur in Freundschaft, sondern oft nur durch lukrativen Zufall verbunden. Außerkünstlerische Aspekte gewinnen so immer mehr an Bedeutung. Vor gut 20 Jahren war es das Thema Education, das sich jedes progressive Opernhaus groß auf die Fahne schrieb, heute zielen die Theater auf Vorreiterrollen in Nachhaltigkeit und Diversität. Absolut richtig so! Nur ihre Gewichtung in der Existenzrechtfertigungsdebatte scheint in Schieflage zu geraten. Das mangelnde Vertrauen in die Kunst und die zunehmende Argumentation aus der Defensive ist der Stärkung der Oper nicht unbedingt zuträglich. Und geht womöglich auch am Interesse des Publikums vorbei, das derzeit so zahlreich wegbleibt wie noch nie. Sicher, die Gründe sind vielfältig, doch wann sollte der Betrieb sich selbstkritisch reflektieren, wenn nicht jetzt?
Wie und was soll Oper künftig sein? Die Frage scheint offener denn je. Kein Wunder, dass die gegenwärtig in der Bundeskunsthalle Bonn gezeigte Ausstellung „Die Oper ist tot – es lebe die Oper!“ sich quasi retrospektiv (und entgegen den durch den Titel geweckten Erwartungen) nur den vergangenen Jahrhunderten der Kunstgattung zuwendet. In aktuellen Videostatements von Menschen aus dem Opernbetrieb wird zwar die unverminderte Notwendigkeit und Wirkkraft der Oper beschworen, aber wie genau diese auch in die Zukunft geführt werden kann – darüber herrscht durchaus kollektive Ratlosigkeit, die sich in viele individuelle Ansichten zerfranst. Immerhin, ein erhellender Blick auf die gegenwärtige Situation ist diese Zusammenstellung schon, ebenso wie auf die ideologische Last, mit der man die alte Tante Oper vielfach auf den Weg zu schicken gedenkt.
Vergleichsweise hemdsärmelig scheint dagegen Laurent Brunner, Chef von Château de Versailles Spectacles, vorzugehen, wenn er einfach auf Raritäten setzt, weil die beim Publikum besser ziehen als Bekanntes. So sichert er dem Schlosstheater im Haus des Sonnenkönigs auf hohem künstlerischem Niveau eine gute Auslastung, was schon mal nicht die schlechteste Voraussetzung für eine Fortführung der Opernkunst ist. Lesen Sie in der vorliegenden Ausgabe über die Opernausstellung in Bonn und die neueste Produktion in Versailles ebenso wie über Roberto Alagnas szenische Rückkehr an La Scala. Der Tenor hatte die Nobelbühne am 10. Dezember 2006 wegen Buhs gegen ihn einst auf offener Szene verlassen und sie erst am 7. Dezember 2020 für eine Arie bei einem Corona-Streaming-Konzert vor leerem Haus wieder betreten. Jetzt hatte Umberto Giordanos Fedora mit ihm Premiere, ein Werk, das in Deutschland als schmachtfetziges Schmuddelkind verunglimpft, hier schon lange keine prominente Inszenierung mehr erlebt hat. Ebenso wie Léo Delibes’ Lakmé, die kürzlich gleich in drei Produktionen zu erleben war. Szenisch in Frankreich und Belgien, in Deutschland wegen bestehenden Kulinarik- und Kolonialismusverdachts natürlich wieder nur konzertant. Wir berichten über alle drei und wünschen nicht nur bei diesem Text eine anregende Lektüre!
Herzlich, Ihr
Ulrich Ruhnke