LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Die Ankündigung war groß und verheißungsvoll, als vor fast genau zehn Jahren, am 3. Dezember 2011, erstmals eine Produktion von Puccinis Turandot mit 3D-Effekten gezeigt werden sollte. Um der Inszenierung von Carlus Padrissa von La Fura dels Baus folgen zu können, bekam man als Zuschauer der Bayerischen Staatsoper von den Schließern eine entsprechende Brille mit einem grünen und einem roten Plastikglas ausgehändigt. Aufzusetzen war sie im Verlauf des Abends nur in ausgewählten Momenten und nach entsprechenden Hinweisen auf dem Übertitelscreen. Was man dann zu sehen bekam, war allerdings nicht mehr als das Drehen von räumlich dem Betrachter entgegenkommenden Ornamenten. Ein recht unspektakulärer und schon gar nicht inhaltlich ergiebiger Effekt. Aber im Kino wurde zu dieser Zeit 3D wieder einmal als Neuerung verkauft, da sprang man halt auch in der Oper auf den Zug der Zeit.
Lange fuhr er dann wieder konventionell, bis in diesem Sommer die Bayreuther Festspiele ein alternatives Ring-Projekt anboten – als spielerische, zugleich aber auch ernst gemeinte Reminiszenz an den neuen Ring, der eigentlich schon im vergangenen Jahr das Bühnenlicht des Festspielhauses hätte erblicken sollen (es coronabedingt nun aber erst im nächsten Sommer tun wird). Sei Siegfried lautete der Titel des dritten Teils der Ersatz-Tetralogie und verwickelte den Betrachter unter der monströs schweren Haube einer Virtual-Reality- Brille in einen Kampf mit dem Drachen. Doch sooft man Fafner auch tödlich mit dem virtuellen Schwert verwundete, das Vieh fiel erst um, als das Computerprogramm ihm den Stecker zog. Regisseur Jay Scheib, der auch Professor am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge (USA) ist, hat die Enttäuschung in zugegeben kurzer Zeit und mit kleinem Budget realisiert. Für die Festspiele 2023 hat Katharina Wagner ihn als Regisseur des neuen Parsifal engagiert, VR-Brillen sollen auch hier zum Einsatz kommen. Allerdings gänzlich andere, wie uns Scheib im Gespräch für die vorliegende Ausgabe sagte. Auch soll der Blick durch die Brille das Bühnengeschehen nur live ergänzen, keineswegs ersetzen. Gut möglich, dass hier erstmals mehr entsteht als nur ein verzichtbarer Gag, der neben dem üblichen Hügel-Publikum bestenfalls ein paar Gaming-Junkies nach Bayreuth lockt. In deren Welt ist Oper nämlich schon längst etabliert – durch die Musik sowieso, aber auch in Form einschlägiger Settings. Überhaupt haben Oper und Computerspiel eine größere Nähe und mehr Möglichkeiten zur Koexistenz als man zunächst vermuten könnte. Lesen Sie mehr dazu in unserem Themen- Beitrag.
Auch im Gesang kann scheinbar Getrenntes zusammengehören, wie uns Michael Spyres, unser Titelkünstler, zeigt. Der US-amerikanische Sänger ist Tenor – und kann zugleich auch in Baritonlage singen: ein Baritenor. Bevor die Stimmgattungen und noch mehr die Stimmfächer immer strikter und hermetischer definiert wurden, war es für Sänger früherer Generationen nicht unüblich, sowohl Tenor- als auch Baritonrollen zu singen. Michael Spyres ist einer der wenigen, die das auch heute noch auf höchstem Niveau vermögen. Grund genug, sich mit ihm zum Interview zu treffen, das Sie ebenfalls in der vorliegenden Ausgabe lesen.
Weitgehend in Vergessenheit geraten ist noch eine andere Kunst, nämlich die von Alfredo Catalani, der im Schatten von Verdi, Puccini und auch Wagner seinen ganz eigenen Weg gegangen ist. Abgesehen von seiner Wally, die immer wieder mal auf den Spielplänen auftaucht, wird kaum ein anderes Bühnenwerk des 1854, also vier Jahre vor Giacomo Puccini ebenfalls in Lucca geborenen Komponisten gespielt. Beim jährlichen Opera Festival im irischen Wexford, wo man sich regelmäßig besonderer Raritäten-Perlen annimmt, hat Ende Oktober Edmea szenische Premiere – Catalanis größter Erfolg zu Lebzeiten und von Arturo Toscanini 1886 in Turin uraufgeführt. In unserer Nahaufnahme erfahren Sie mehr zum Stück und zur bevorstehenden Produktion.
Was wiederum der neue Intendant der Bayerischen Staatsoper, Serge Dorny, in Zukunft in München vorhat, lesen Sie ebenfalls in diesem Heft. Wie auch über die späten Premieren der sommerlichen Festspiele und die ersten Produktionen der neuen Spielzeit. Überall geht der Vorhang wieder hoch, was für eine Freude!
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke