LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
wenn alte Männer modern sein wollen, surfen sie gerne auf dem Zeitgeist und bedienen sich seiner Abziehbilder. Aktuellstes Beispiel: Peter Sellars, der in seiner ermüdenden Inszenierung von Prokofjews Der Spieler bei den Salzburger Festspielen aus Polina eine Klimaaktivisten gemacht hat und orange Fridays-for-Future-Farbe auf die Bühne bringt. Das hat zwar weder etwas mit dem Stück zu tun und schon gar nicht mit der Figur, hinterlässt aber wahrscheinlich ein wahnsinnig gutes Selbstgefühl, wenn man als weltjettender und -rettender Regisseur schon wieder im nächsten Flieger sitzt, gegen den die Klimakleber doch eigentlich einen so großen Groll hegen. Noch wichtiger als die Frage nach der Doppelmoral der Künstler-Blase dürfte für das Publikum jedoch jene sein: Ist das Kunst oder kann das weg? Hier, ganz klar: kann weg! (Lesen Sie dazu auch die Rezension auf unserer Webseite)
Einen ersten Hinweis liefert der unter dem zunehmenden Beweisdruck ungeschmälerter Relevanz stehende Alt-Regisseur selbst. Die von ihm geschriebene und im Programmheft abgedruckte Handlung erzählt gar nicht die Handlung von Der Spieler. Sie erzählt das, was wir auf der Bühne zu sehen bekommen, ein Sellars-Stück. Sogar die Übertitel werden dafür munter umgeschrieben und angepasst, ganz so, als seien sie bloß eine Marketing- Strategie zum leichteren Verkauf des Produkts. Wäre ja auch zu blöd, wenn man die Zuschauer selbst auf die Widersprüche zwischen Originaltext und Szene hinweisen würde.
Doch besteht nicht genau hierin auch ein Teil der Kunst – im offensichtlichen Widerspruch, der in der szenischen und musikalischen Verlebendigung des Wort- und Notentextes überwunden und zu einer neuen, höheren Sinneinheit geführt wird? Nur wer dazu nicht in der Lage ist, greift ein, schreibt um, vertuscht. Zeit, sich einmal der Frage zu nähern: Ist Regieführen Kunst oder Kunsthandwerk? In unserem Themenbeitrag gehen wir ihr nach.
Und auf noch einen weiteren Missstand des aktuellen Opernbetriebs hat uns die Sellars-Produktion hingewiesen: das dümmliche Weglassen von Pausen. Regisseure lieben es, weil sie sich durch die Straffung eine von außen hinzugewonnene Stärkung der Spannung erhoffen, die sie im Inneren durch ihre Arbeit nicht zu erzeugen vermögen. Doch auch hier: der Trick geht nicht auf und der Frust bleibt. Es leidet so viel darunter, am meisten das Werk und möglicherweise auch die Bemühungen um junges Publikum. Die enorme Bedeutung außerkünstlerischer Aspekte des Opernbesuchs ist mehr als einmal wissenschaftlich belegt worden. Warum man sie dennoch geflissentlich ignoriert, ist ein Rätsel. Oper ist Begegnung, Austausch, Debattieren und Streiten. Wo soll das stattfinden, wenn man nach zwei Stunden wieder rausgeschmissen und auf den Nachhauseweg geschickt wird? Das Vorher, das Pausieren, das Nachher – das alles gehört dazu. Warum nicht Räume und Zeiten dafür schaffen, beispielsweise am Wochenende, wenn das Arbeitsleben den Menschen die Möglichkeit dazu gibt? Warum dann nicht wieder mal eine Butterfly mit zwei Pausen statt der inzwischen üblichen einen? Es gibt auch triftige dramaturgische Gründe dafür, die den Komponisten sehr bewusst waren. Zeit, einmal genauer hinzusehen und sich mit der Kunst der Pause zu beschäftigen.
„Eile mit Weile“ gilt auch für unsere aktuellen Interviewpartner. Ob Sänger, Dirigent oder Komponist – ohne Muße gibt es keine Reflexion, keine Kreativität. Und manchmal wird man zur Pause vom Leben sogar gezwungen. Das ist dann meistens weniger erfreulich, beispielsweise wenn man als Sänger mit Long Covid zu kämpfen hat. Auch hierüber lesen Sie in der aktuellen Ausgabe.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und einen guten Saisonstart!
Herzlich,
Ihr Ulrich Ruhnke