Am Staatstheater in Kassel startet die neue Intendanz mit Wozzeck und Tosca in der sogenannten „Raumbühne“. Die funktioniert aber nur mit Hilfe technischer Verstärkung der Sänger – ein höchst problematischer Paradigmenwechsel in der Aufführungsgeschichte der Oper, den man als Voraussetzung hier zu akzeptieren hat. Ebenso wie die atypische Orchesterplatzierung und die dadurch bedingten sehr unterschiedlichen akustischen Eindrücke.
Von Joachim Lange
Als Intendant in Halle hatte Florian Lutz mit seinen Inszenierungen und all den Neuerungen, die er gegen Widerstände des eigenen Geschäftsführers und eines Teils der Politik durchzusetzen vermochte, das Haus ziemlich durchgeschüttelt – und aus eher mittelmäßiger Gemächlichkeit in die Spitzengruppe derjenigen Häuser katapultiert, die nach neuen Wegen suchen, um dem Genre (s)eine Zukunft zu sichern. Als Lutz in Halle vorzeitig aufhörte, stand sein Wechsel als Intendant für alle Sparten des Staatstheaters Kassel schnell fest. Sebastian Hannak, der für seine Raumbühne in Halle ausgezeichnet wurde, hat auch jetzt in Kassel als „Haus-Szenograf“ eine aufwändige Gerüstkonstruktion mit Namen PANDAEMONIUM gebaut. Dadurch werden nicht nur neue Einblicke ermöglicht, sondern auch 630 nach 3G-Regel zugelassenen Zuschauern der Theaterbesuch. Zu dem auf Lücke besetzten Parkett kommen so drei Pseudo-Ränge hinzu, in denen alle in der ersten Reihe sitzen.
Wozzeck
Es hat aparten Witz, zum Auftakt der Intendanz auf Bergs Wozzeck (1925) Puccinis Tosca (1900) folgen zu lassen. Mit Wozzeck stellt sich Lutz als Regisseur in Kassel vor. Das erste abendfüllende Bühnenwerk in freier Tonalität hat es längst in den Kanon der Schlüsselwerke der Moderne geschafft, die aufrütteln und mit dunkler Schönheit faszinieren. Nicht nur, weil das Orchester hin und wieder auf Eigenständigkeit besteht, sondern auch, weil der Text dicht auf der Musik liegt. Aber auch schon in Büchners Textfragment (1837) scheint das Leiden der Kreatur in jedem Halbsatz auf. Das Mitfühlen mit den „armen Leut‘“ und den Abscheu vor den Verhältnissen in Richtung Gegenwart zu öffnen, reizt einen Regisseur wie Lutz besonders. In Kassel bricht die Gegenwart ins Stück in Gestalt einer Demokratie-Show ein, bei der das Publikum über diverse Gesetze abstimmen soll und die Raumbühne zum Musiktheater-Parlament wird. Die Themen stammen aus dem Stück: Ernährung, Kontakte und Gewalt. Mit ausgeteilten Abstimmungskarten geht es im Pro oder Contra um ein „Beste-Ernährungs-Gesetz“, ein „Sichere-Kontakte-Gesetz“ und das „Sichere-Deutschland-Gesetz“. Das Ganze wird gesponsert von einem Konzern, der das Flüssignahrungsgetränk „Biofuel“ herstellt und dem der smarte Tambourmajor als Werbefigur dient. Zur geistigen Wegzehrung, die jeder Zuschauer mit nach Hause nimmt, gehört die Frage, wohin diese Gesetze in einfacher Sprache und mit den einfachen Lösungen wohl führen würden.
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