LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Hinter uns liegt der erste weitgehend normale Festspielsommer nach zwei Jahren Totalausfall oder Schrumpfbetrieb. Die Kapazitätsbegrenzungen waren fast überall vollständig aufgehoben, man saß wieder dicht an dicht und nicht mehr in der bequemen Luxusvariante des Schachbrettmusters. Auch Impfzertifikate wurde nicht mehr geprüft und sogar bei den Bayreuther Festspielen war die Maskenpflicht einer Maskenempfehlung gewichen. Nur der fränkische Türsteher verlangte, obwohl er seine Gäste schon längst wiedererkannte, nach jeder einzelnen Aktpause, selbst beim Ring, zum Ticket selbstverständlich auch den Personalausweis vorgezeigt zu bekommen. Für die Einlassgeschwindigkeit war das zwar suboptimal, aber im Vergleich zum polizeilich abgeriegelten Hochsicherheitstrakt des letzten Jahres ein verschmerzbarer Beweis deutscher Pedanterie. Auf dem Hügel gilt’s schließlich der Kunst und nicht dem Kunstgenuss.
In der bevorstehenden kalten Jahreszeit wird der Unbill im normalen Spielbetrieb wohl noch einmal merklich anziehen. Dass die Corona-Maßnahmen aufgehoben werden und bleiben, wie es in der Schweiz und in anderen Ländern längst der Fall ist, davon ist für Deutschland nicht unbedingt auszugehen. Zumindest nach dem vorliegenden Entwurf des neuen Infektionsschutzgesetzes könnte der Nachweis von Auffrischungsimpfungen wieder ein Thema werden. Neu hinzu kommen erhebliche Einschränkungen, die durch die aktuelle Energiekrise und eine prognostizierte Inflationsrate von zehn Prozent drohen. Abgeschaltete Straßenbeleuchtungen, heruntergefahrene Raumtemperaturen und ein durch die letzten zwei Jahre entstandener Entwöhnungseffekt dürften die Lust des Publikums, sich für eine Opernvorstellung aus dem Haus zu begeben, weiter abkühlen lassen. Gut möglich, dass das in der vergangenen Saison nur zögerlich und teilweise zurückgekehrte Publikum sich weiter ausdünnt. Die Theater werden in Zukunft wohl noch häufiger auf leere Zuschauerreihen blicken und zugleich auf gestiegene Heizkostenrechnungen, bereits beschlossene Tarifsteigerungen und empfindliche Mehrausgaben in ihren Werkstätten aufgrund gestiegener Rohstoffpreise.
Wer mag in solchen Zeiten an künstlerische Wagnisse denken, an das Neue, das noch nicht erfolgreich Erprobte und seit Langem Bewährte? Die Amerikaner sind’s und hier ausgerechnet die Opernfabrik Metropolitan Opera, die allabendlich mehr als alle anderen Opernhäuser, nämlich fast 4.000 Plätze zu füllen hat. Nach Terence Blanchards Rassismus-Stück Fire Shut Up In My Bones, mit dem sich die Met vergangenen Herbst nach über anderthalb Jahren Schließzeit wieder zurückgemeldet hatte, zeigt sie in der neuen Saison ein weiteres Werk des Komponisten, dieses Mal seinen Champion über den schwulen Profiboxer und Weltmeister Emile Griffith. Andere zeitgenössische Opern folgen, so wie überhaupt aktuell und in den letzten Jahren allerhand gut gemachte neue Opernliteratur aus den USA kommt, die beim Publikum auf Gegenliebe stößt und entsprechend im Repertoire Fuß zu fassen beginnt. In Deutschland, das zwar auf eine höhere Uraufführungsquote, aber auf weniger Werke mit relevanter Repertoiredauer verweisen kann, sind diese Well-made plays aus Amerika vereinzelt und bislang nur an kleinen und mittleren Häusern zu sehen. Warum war etwa Jake Heggies Dead Man Walking noch nicht an einer der Staatsopern von Hamburg über Berlin bis München zu erleben? In unserem aktuellen Themenbeitrag werfen wir einen Blick auf die amerikanischen Musiktheaterstücke, was sie so besonders macht und warum sie in Deutschland noch allzu selten zu sehen sind.
Neues wollte auch der 33-jährige Regisseur Valentin Schwarz mit seinem Ring für die Bayreuther Festspiele schaffen. Eigentlich schon für 2020 geplant, hatte seine Arbeit coronabedingt erst in diesem Sommer Premiere und erwies sich doch als ein zwiespältiger Flop. Was als spannende Familiensaga über vier Folgen im Netflix- Stil geplant war, entpuppte sich als nette, aber schlecht realisierte Idee mit wenig Erkenntnisgewinn. Unfreiwillig könnte die Arbeit bestenfalls insofern etwas Neues gebracht haben, als eine lässig-erzählerische Neuschreibung der Handlung (die von einem anderen Regisseur erst noch zufriedenstellend zu realisieren wäre) mit einhergehendem Interpretationsverzicht eine gewisse Entspannung ins überreizte Ausdeutungstheater auf unseren Bühnen bringen könnte.
Neben Bayreuth und den anderen großen Festivals haben wir auch Malta besucht, wo der dort geborene Joseph Calleja sein 25-jähriges Bühnenjubiläum feierte und uns im Interview einen Ausblick auf sein Parsifal-Debüt in Bayreuth im nächsten Jahr gab. Ins schwedische Båstad wiederum lockte uns das Museum für die (nicht nur) Wagner-Heroine Birgit Nilsson. Dem Bayreuther Meister kann man auch hier nicht entkommen, zu so viel posthumer Präsenz hat es tatsächlich kaum ein anderer Komponist gebracht.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre mit unserer ersten Ausgabe für die neue Spielzeit!
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke