Die Winterspielzeit der Tiroler Festspiele Erl kombiniert Adams Le postillon de Lonjumeau mit Mascagnis L’amico Fritz. Die Kombination der beiden Werke demonstriert Höhepunkt und Krise der heiteren Oper des 19. Jahrhunderts.
Von Roland H. Dippel
Casting auf Französisch: Nur weil ihm der Zufall mit einem Kutschenunfall in der Peripherie von Paris zur Hilfe kommt, findet der Marquis de Corcy den neuen Tenor für die von König Ludwig XV. favorisierte Oper. Knapp 50 Jahre nach den politischen Umstürzen durch die Französische Revolution war das an der Pariser Opéra-comique 1836 in Le postillon de Lonjumeau der Beginn eines Welterfolgs. Dieses Werk ist nicht nur ein erstklassiges Modellstück des Genres, sondern brachte für Zeitgenossen auch noch einen äußerst gewitzten Rückblick auf die verzopften Zustände der Feudalzeit. Das „Postillon-Lied“ mit dem sprichwörtlichen D sangen fast alle bedeutenden Tenöre, besonders schön zum Beispiel Henri Legay, Nicolai Gedda und Adolfo Dallapozza – in der Salle Favart 2019 zuletzt Michael Spyres. Dort erfährt das lange vernachlässigte Repertoire unter François-Xavier Roth eine vielbeachtete Wiederbelebung. Zwischen den Jahren triumphierte Le postillon de Lonjumeau nun auch im Winterzyklus der Tiroler Festspiele Erl. War es Zufall oder Corona-Strategie, dass Bernd Loebe mit der Gegenüberstellung von Adolphe Adam und Pietro Mascagnis L’amico Fritz Werke wählte, an deren Kombination Höhepunkt und Krise der heiteren Oper des 19. Jahrhunderts erkennbar werden?
Ohne falsche Regie-Ambition kann man Le postillon de Lonjumeau als eine der gelungensten Produktionen dieser Spielzeit bezeichnen. Hans Walter Richter belässt die Handlung in einem ironisch modellierten 18. Jahrhundert, Kaspar Glarner versetzt die Geschichte in einen Theaterraum. Der bodenständige erste Akt, in dem sich die Wirtin Madeleine und der Postillon Chapelou recht skeptisch auf ihre gemeinsame Zukunftsfähigkeit abklopfen, spielt an der Rückwand von Bühnenbildaufbauten. Wenn zehn Jahre später beide in ihren neuen Gesellschaftsrollen alte Verhaltensmuster wiederholen und klären, wird es dekorativ. Schöner Schein und pikante Realität verschwimmen. Die Figuren intrigieren und debattieren auf einer Opernbühne. Richter überfrachtet die Handlung nicht mit Erklärungen, Rechtfertigungen oder gar Verschlimmbesserungen. Dafür nimmt er die Figuren hinter den Komödienspielchen ernst und motiviert agile Choristen zu gewitzten Nebenhandlungen. Komödiantische Zielstrebigkeit sticht Kalauer-Risiken aus. Die Handlung sitzt – in dieser Konstellation wird die Premiere zur Sternstunde für alle Beteiligten.
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