Seit 2020 ist Michael Hofstetter Intendant der Gluck Festspiele Nürnberg. Im Interview spricht der Dirigent über seine eigene Begeisterung für Gluck und wie man dessen Reformopern revitalisieren kann.
Interview: Uwe Friedrich
Die operngeschichtliche Bedeutung Christoph Willibald Glucks ist unbestritten, dennoch wirkt seine Musik im Übergang vom Barock zur Klassik häufig wie ein Barockschloss, dem der Stuck abgeschlagen wurde: langweilig. Was reizt Sie an diesem Komponisten?
Gluck selber sprach davon, dass für den Erfolg seiner Musik die Einstudierung durch den Komponisten so wichtig sei wie die Sonne für die Natur. Nun können wir Gluck heute nicht mehr bitten, seine Werke selbst einzustudieren, aber zweifellos brauchen seine Kompositionen einen starken Sachwalter, der diesen Stil zur Entfaltung und zum Aufblühen bringt. Glucks Partituren sind übersichtlich. Sie sind auf den ersten Blick nicht besonders kompliziert. Aber die Überraschungen, sowohl im Orchesterpart als auch in den Melodien, muss man finden können. Entscheidend ist dabei, dass er in der Oper einen Paradigmenwechsel geschafft hat von der Affektdarstellung in der Barockoper mit ihren festgelegten und letztlich austauschbaren musikalischen Gesten hin zu einer wahrhaftigen Darstellung des Innenlebens seiner Protagonisten. Er wendet sich den letzten Dingen zu und findet eine ganz eigene Sprache, um diese Seelenwelten hörbar zu machen.
Das Problem bleibt aber, denn das Ergebnis klingt sowohl im Vergleich mit der barocken Virtuosenoper als auch mit der romantischen Gefühlsentäußerung eher unspektakulär. Sind unsere Hörgewohnheiten verdorben für die „edle Einfalt und stille Größe“ dieser Musik?
Gluck erfindet eine eigene Sprache, um den Blick ins Innere seiner Protagonisten zu lenken. Diese musikalische Sprache müssen Sänger und Orchester aus den Noten herauslocken. Es reicht nicht, bloß die richtigen Noten zu spielen. Gluck schreibt häufig das berühmte und berüchtigte Tremolando. Das kann man auf verschiedene Weisen ausführen, über die man sich auch streiten kann. Aber man muss etwas damit sagen wollen, nicht nur mechanisch „zitternd“ oder „bebend“ spielen, wie die wörtliche Übersetzung lautet. Und dann kann es klingen wie eine spannende Tatort-Musik. Das gilt auch für die gesangliche Darstellung. Hier ist Gluck plötzlich ganz nah bei der Ästhetik von Walter Felsenstein oder Pina Bausch. Es geht nie um bloßen Schöngesang, sondern um eine wahrhaftige Diskussion der größten Themen. Wenn Alceste und Admeto diskutieren, wer für den anderen sterben darf, haben wir eine Situation wie in einem Hollywoodfilm, wo das Liebespaar an der Reling der Titanic steht und im Rettungsboot gibt es nur noch einen Platz. In solche Situationen führt Gluck sein Personal in jeder seiner Reformopern. Der Ausdruck selbst ist leider unglücklich, denn er klingt nach Reformhaus und geschmacksarm-gesunder Kost. Aber da passiert viel mehr. In dieser Zeit ändern sich das Verständnis der Welt und das Selbstverständnis der Individuen grundlegend, das spiegelt sich in Glucks Musik. Richard Wagner, Hector Berlioz und Richard Strauss haben das genau verstanden und Glucks Impulse weitergeführt.
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