Claus Guth inszeniert Händels Semele für die Münchner Opernfestspiele 2023.
Von Roland H. Dippel
Immer wieder heißt es, Semele, Georg Friedrich Händels musikalisches Bühnenwerk in der „Art eines Oratoriums“, sei inhaltlich ein barockes Analogon zu Richard Wagners 106 Jahre später uraufgeführter romantischer Oper Lohengrin. Das stimmt nur bedingt, obwohl Händel mit dem griechischen Götteroberhaupt Zeus bzw. Jupiter für seinen bevorzugten Tenor John Beard die Paraderolle eines überirdischen Wesens und dessen unglücklich endende Liebe zu einer adeligen Sterblichen schilderte. Auch ist Händels Göttergattin Juno zwar notorisch eifersüchtig, aber weitaus weniger impulsiv als Wagners heidnische und nach Vergeltung trachtende Ortrud. Ganz und gar nicht stimmt das zweite Vorurteil über The Story of Semele. Denn dieses Stück wird in letzter Zeit nicht selten, sondern sogar recht häufig gespielt: In München vor einigen Jahren vom Ensemble des Gärtnerplatztheaters mit dem jungen Franco Fagioli, an der Komischen Oper Berlin in der Inszenierung von Barrie Kosky und soeben bei den Internationalen Händel Festspielen Göttingen unter George Petrou mit Vivica Genaux als Juno.
Jetzt also Semele ab 15. Juli bei den Münchner Opernfestspielen 2023 im Prinzregententheater. Peter Jonas hatte als Staatsintendant von 1993 bis 2006 neben seiner Erfolgsserie im laufenden Repertoire der Bayerischen Staatsoper die Festspiel-Premieren von Barockopern im Prinzregententheater eingeführt, zum Beispiel einen Monteverdi-Zyklus, Händels Rinaldo und Rodelinda. Einiges davon ist auf Tonträgern festgehalten, meistens mit der von Ivor Bolton aufgebauten und zur umjubelten Meisterschaft gepuschten „Barock-Combo“, bestehend aus Mitgliedern des Bayerischen Staatsorchesters, das in dieser Spielzeit sein 500-jähriges Jubiläum feiert. Nach dieser Barock-Flut hatte Jonas‘ Nachfolger Nikolaus Bachler bis 2021 erst einmal eine Barock-Flaute angeordnet. Jetzt besinnt sich Staatsintendant Serge Dorny für das Finale seiner zweiten Spielzeit also auf eine vertraute Disposition: Im Nationaltheater zur Festspieleröffnung Zeitgenössisches mit Hamlet von Brett Dean, danach Barockes. Und er holte Claus Guth. Auch das ist eine zu seinen Vorgängern wahlverwandtschaftliche Entscheidung. Bereits Jonas favorisierte zwei primäre Regie-Stränge: Hier die damals neuen Wilden des Musiktheater-Brit-Pop wie David Alden, Richard Jones und Tim Albery. Andererseits – wie im Fall von Händels Saul in der Inszenierung von Christof Loy – die nachdenklich gründlichen aus der zweiten Generation des deutschsprachigen Regietheaters. Claus Guth kennt seinen Händel, inszenierte zum Beispiel dessen Orlando (2019) und Saul (2018) im Theater an der Wien, Rodelinda am Teatro Real Madrid (2017). Ein besonderer Höhepunkt war sein Händel-Oratorium The Messiah mit simultaner Übersetzung in Gebärdensprache als integraler Bestandteil der szenischen Produktion, ebenfalls im Theater an der Wien.
Claus Guth kennt seinen Händel
Noch hat man an der Isar keinen Daueranwalt für das Repertoire des 18. Jahrhunderts wie Ivor Bolton während der Intendanz von Peter Jonas. Mit dem studierten Barock-Violinisten und Mozart-Experten Stefano Montanari wollte man für Semele einen aussichtsreichen Anwärter auf diese Position ohne Adelsprädikat holen. Vor kurzem aber wurde doch umbesetzt: Jetzt dirigiert Gianluca Capuano, der seit Jahren mit seinem Ensemble Les Musiciens du Prince – Monaco, Cecilia Bartoli bei Alte-Musik-Projekten der Salzburger Pfingstfestspiele und am Opernhaus Zürich begleitet.
Die Mischung der Solisten-Ensembles bei Peter Jonas hat sich bewährt und wird deshalb in München weiterhin kultiviert: Stars agieren auf der Bühne des Prinzregententheaters neben Spitzentalenten mit guten Chancen für eine internationale Elitekarriere. Brenda Rae sang die Titelpartie Semele bereits 2015 in Seattle und stand als Polissena in Radamisto neben David Daniels auf dem Podium der Carnegie Hall. Die Kanadierin Emily D’Angelo stellte sich dem Münchner Publikum bereits 2021 als Idamante in Idomeneo vor und sang seither den Prinz Charmant in Massenets Cendrillon an der Met.
Die männlichen Partner gehören zu den Topstars. Über den Countertenor Jakub Józef Orliński, der sich nach einem Festkonzert bei den Händel-Festspielen Halle sofort in die Münchner Proben begab, braucht man keine Worte zu verlieren. Und es war nur eine Frage der Zeit, wann Michael Spyres nach Erkundung aller Tenor-Fächer des 18. Jahrhunderts und der Mitwirkung bei einer CD-Turandot in der für einen Tenor im Zenit ungewöhnlichen Partie des Kaisers Altoum wieder bei Händel ankommen würde, nachdem er in Theodora mit Joyce DiDonato und Lisette Oropesa aufgetreten war. Dieser Besetzungsreigen bedeutet eine spannende Voraussetzung für die Koproduktion der Bayerischen Staatsoper mit der Met.
Bevor es an die eigentliche Regie geht, muss bereits die enge Verzahnung mit Befeuerung des Bühnenensembles beginnen – inklusive der für konzertante und szenische Oratorien-Vorstellungen immer wichtigen Chöre. Opern des Hochbarock mit ihrem Wechsel von langen, im Ausdruck wenig variantenreichen Arien und oft überaus schnellen Rezitativen erfordern für die szenische Umsetzung besonderes Geschick. Die Affektflächen müssen mit gestischer und mentaler Bewegung gefüllt oder diese in das temporeiche Geschehen gepresst werden. Erst wenn diese – egal ob psychologisch gedacht oder nicht – stimmig miteinander verzahnt sind, stimmt für heutiges Publikum die Werkarchitektur.
Obwohl Händel mit Hercules ein weiteres großartiges Oratorium auf ein Sujet der antiken Mythologie komponiert hatte, war diese Gattung eigentlich biblischen Sujets vorbehalten. William Congreve hatte das Libretto zu Semele bereits 1705/06 für eine Oper von John Eccles geschrieben. Diese gelangte, obwohl vollendet (und vor zwei Jahren erstmals eingespielt), aber nicht zur Aufführung. Vermutlich hatte Newburgh Hamilton das Libretto frei nach dem dritten Buch von Ovids Metamorphosen für Händel und den veränderten Zeitgeschmack eingerichtet. Semele erlebte nach der Uraufführung am 10. Februar 1744 im Londoner Theatre Royal Covent Garden drei weitere und im Dezember noch zwei Vorstellungen, für Händel keine befriedigende Anzahl. Man vermutet seither immer wieder, dass Semele aufgrund ihrer als frivol betrachteten Handlung nur geringen Erfolg hatte. Anders als in vielen Barockopern beginnen die Götterwesen die Handlung nicht mit einem Prolog und helfen bitteren Schicksalen nicht nur mit einem gerechten oder gnädigen Spruch auf die Sprünge. Sie sind hier in der Handlung mit den Menschen mehr oder weniger verwoben. „Götter sind auch nur Menschen“, war einer der zentralen Gedanken des Produktionsteams in der Mitte der ersten szenischen Probenwoche Anfang Juni.
Götter sind auch nur Menschen
Auf den ersten Blick glänzen beide Welten wie Gold: Da ist zum einen die irdische Sphäre von Cadmos, dem Gründer und ersten König von Theben. Reichtum, Kinder und Ruhm hat er. Doch in dieser Führungskaste läuft alles seinen geregelten Gang und ist demzufolge für die Spitzen der Gesellschaft ein bisschen langweilig. Wie auf Erden, so im Olymp: Dort verläuft die Choreografie des Rituellen durch eine festgefügte Aufgaben-, Funktions- und Kontrollverteilung in klaren Bahnen vom mit Pünktlichkeit hochschießenden Sonnenwagen bis zur Speisung der Olympischen mit den ihnen vorbehaltenen Fitmachern Nektar und Ambrosia. Claus Guth sieht sich als Regisseur nicht in der Rolle des Tadelnden, sondern geht mit Verständnis an die Figuren heran. So betrachtet er den nach sterblichen Frauen wildernden Götterfürsten Jupiter und die privilegierte Semele als Außenseiter ihrer Sphären, die auf der Suche nach einem anderen als dem vorgesehenen Leben zwangsläufig aufeinander stoßen müssen.
Egal ob lange Zeit mit Christian Schmidt oder jetzt mit Michael Levine: Guth bevorzugt klare Räume, in denen die Problemkonstellationen der Figuren mit den Konsequenzen falschen und richtigen Zauderns, Erwägungen und Entscheidungen plausibel werden. In diesem Fall denkt er die Handlungsentwicklung von rückwärts. Wenn Jupiter sich Semele auf ihr Drängen endlich in seiner „echten“ nichtmenschlichen Gestalt offenbart, verglüht sie in der freiwerdenden Energie aus Blitz, Feuer und Hitze. Der Fötus aus Semeles und Jupiters geschlechtlicher Vereinigung kann gerettet werden, indem Jupiter seinen Schenkel aufschneidet, in dieser Lücke Dionysos bis zu einem entbindungsartigen Akt wie in einer weiblichen Gebärmutter nährt und dann ein zweites Mal zur Welt bringt. Dionysos wird zum Gott des Rausches und der sinnlichen Entfesselung, symbolisiert also die Ausnahmezustände im rationalen bzw. durchrationalisierten Leben. Auch steht Dionysos als Initialzündung für Momente, in welchen die Prinzipien Eros und Thanatos – sinnliche Erfüllung und Auslöschung – aneinandergeraten. In der griechischen Mythologie ist fast alles Symbol und Zeichen. Insofern lassen die Zuschreibungen für Dionysos Rückschlüsse auf die Eltern, zumindest zum Zeitpunkt seiner Zeugung zu. Semele und Jupiter führen eine Existenz auf Messers Schneide und Flammenspitzen. Das kann nicht lange dauern und auf Dauer nicht gut gehen.
Aber es wäre viel zu langweilig, anhand einer solchen deutenden und wertenden Zielgeraden sich durch das Stück hindurchzuarbeiten. Umso wichtiger werden Figuren, die in der Mythologie keine oder kaum eine Rolle spielen, hier also Semeles Schwester Ino. Guth wollte sich mit der Gegenüberstellung der Sphären Olymp und Theben nicht zufriedengeben, dachte weiter über eine Durchdringung nach. So kommt es zu einer erweiterten Lesart. Am Hof ihres Vaters ist Semele unglücklich und erschafft sich in dieser Zwangssituation mit Tagträumen eine fantastische Parallelexistenz. Auf der Bühne und in ihrem Denken wird die fabulierte Welt immer deutlicher und in ihrem Denken gleichwertig neben der „Realität“. So endet Semele – egal ob in einer Betrachtung aus symbolischer, mythologischer oder bürgerlicher Perspektive – auf alle Fälle explosiv. Ein solch bipolares Ende mit Blitz und Hochzeit kann und darf einem nicht geheuer sein. Händels großartige Musik verträgt bestens die daraus entstehenden Fragen.