Nach jahrelangem Hausarrest inszeniert Kirill Serebrennikow mit dem Freischütz in Amsterdam endlich wieder eine Oper vor Ort. Auf das Publikum wartet eine radikale Lesart, die mit einem Fragezeichen endet, wie der Regisseur vor der Premiere verrät.
Von Manuel Brug
Gegenwärtig denkt Kirill Serebrennikow viel über den Juni 2017 nach. Damals fand in der Moskauer Helikon-Opera die Uraufführung von Alexander Manotskovs Chaadsky unter seiner Regie statt. „Alexander Manotskov ist mein Freund, ich habe bereits eine andere Oper von ihm inszeniert“, erinnert sich der derzeit in Amsterdam arbeitende Exilant. „Er hat auch immer wieder Musik für Dramenproduktionen von mir geschrieben, etwa für Gorkis Die toten Seelen am Gogol Center in Moskau. Es ist immer aufregend, etwas Neues zu beginnen, und dieses Projekt war in jeder Hinsicht besonders. Wir haben damals eine sehr wichtige menschliche Aussage darüber versucht, was in Russland passiert, was mit einer Person mit bestimmten Ansichten, Gedanken, Bewusstsein geschieht – als ein Spiegelbild unserer gegenwärtigen Einstellungen, Gefühle, Zweifel. Chaadsky – nicht zufällig stimmt der Nachname der Hauptfigur dieser Oper mit dem Nachnamen des Protagonisten des bekanntesten Werks Verstand schafft Leiden unseres großen russischen Komödiendichters und Diplomaten Alexander Gribojedow überein. Chaadsky – Tschatski – Tschaadajew. Denn der Denker Pjotr Tschaadajew mit seinen Philosophischen Briefen war wiederum das literarische Modell für den Satiriker Tschatski im Stück. In Russland ist immer alles sehr miteinander verschränkt.“
Chaadsky war die letzte Premiere, an der Kirill Serebrennikow als freier Mann arbeiten konnte. Nicht zufällig. „Oper hat mich schon seit längerer Zeit immer stärker angezogen“, sagt er, der doch auch nach wie vor als Schauspieler, Theaterleiter, Autor, Ballettschöpfer, Filmregisseur unterwegs ist. „Für mich scheint das alles eins, Leben ist Arbeit und Arbeit Leben. Das war einmal grenzenlos, dann nur sehr eingeschränkt möglich.“ Nach Chaadsky ging es los – das Stuttgarter Hänsel und Gretel-Fanal im folgenden Oktober war das erste, unbefriedigende Ergebnis – mit den virtuellen Serebrennikow-Inszenierungen aus der Arrestferne, zunächst mit hin- und hergeschickten USB-Sticks und viel Vorspielen von Seiten des Regisseurs mühevoll realisiert. Jetzt aber sitzt Kirill Serebrennikow leibhaftig in Amsterdam und tut, was er immer tut: Er arbeitet. Vor sich die Partitur des Freischütz, wieder mal ein fensterloser Raum. „Aber draußen atmet Amsterdam, ich kann diese liberale Stadt auch hier drinnen spüren. Das ist für mich endlich wieder Freiheit.“ Denn plötzlich durfte der 52-Jährige nach langen Jahren der Haft, der Prozesse, des Hausarrests, des passlos an Russland gebunden Seins, ausreisen, im Januar 2022, fünf Wochen vor Beginn des Ukraine-Krieges. Um seiner wieder einmal per Zoom inszenierten Tschechow-Produktion Der schwarze Mönch am Hamburger Thalia Theater nun doch persönlich den letzten Schliff zu geben.
Jetzt weiterlesen!
Dies ist Premiummaterial. Testen Sie unsere Angebote, um den gesamten Artikel zu lesen.
Abonnieren
Das aktuelle gedruckte Heft jetzt bestellen oder komplett online lesen!Jetzt mit wenigen Klicks zum OPER!-Inhalt
Ausprobieren
Zwei ausgewählte Artikel kostenlos lesen? Dann registrieren Sie sich hier!In dieser Ausgabe kostenlos: