LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Ja, es gab sie, die Protestler, die am 5. September vor und in der Wiener Staatsoper ihr Missfallen gegen Anna Netrebko und ihre Rückkehr ans Haus am Ring kundtaten. Doch waren sie in der Minderzahl, ungleich größer war der Jubel. Mit drei so gut wie ausverkauften Vorstellungen ließ das Publikum wissen, was es von einer Verbannung der Künstlerin aus politisch-moralischen Gründen von europäischen Bühnen hält, nämlich gar nichts.
Anna Netrebko hatte sich zunächst überhaupt nicht, später nur sehr halbherzig und mit einem vom Anwalt wasserdicht vorformulierten Statement vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine distanziert, was ihr die Ausladung von so gut wie allen westlichen Engagements einbrachte und natürlich viel Kritik. Peter Gelb von der Metropolitan Opera hält bis heute daran fest, Serge Dorny, Intendant der Bayerischen Staatsoper, hat inzwischen immerhin bekundet, die Situation heute eventuell neu bewerten zu können. Monte-Carlo hatte bereits im April zu Ende gedacht (oder vorher gar nicht gedacht) und Netrebko die Tür für erste Reinwaschungsauftritte in Manon Lescaut geöffnet. Als Einspringerin für die erkrankte Maria Agresta und damit übrigens ähnlich kurzfristig und unerwartet wie in Wien. Denn ursprünglich sollte hier dem Publikum statt des Puccini-Klassikers Halévys La Juive gezeigt werden, mit Sonya Yoncheva und Roberto Alagna. Doch Erkrankungen u.a. der Titelinterpretin machten die Aufführungsserie angeblich unmöglich. Gänzlich glaubwürdig ist das allerdings nicht. Das Stück wurde und wird aktuell auch an größeren Häusern gespielt, studierte Sänger sollten also zu bekommen sein. Mit dem vorgezogenen, ursprünglich für Januar als Aida geplanten Wiener Comeback von Anna Netrebko dürften weitergehende Abstrafungsdebatten nunmehr endgültig dem Nullpunkt entgegengeführt worden sein. Das Publikum will die Künstlerin offenbar, und damit auch die Häuser, die derzeit wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr unter Publikumsrückgang leiden.
Wer um die aktuelle Entwicklung des Konsumklimaindex weiß, der kennt auch die Kurve der Vorstellungsauslastungen. An der Berliner Staatsoper beispielsweise sind selbst für den neuen Ring noch bequem Tickets zu bekommen. Christian Thielemann übernimmt die musikalische Leitung für den an Vaskulitis erkrankten Daniel Barenboim, der damit erstmalig einem Kollegen sein Pult in der Staatsoper überlässt, zu dem man ihm einiges, aber wohl kaum eine Best-buddy-Freundschaft nachgesagt hätte. Ganz sicher wird Thielemann sich im Haus Unter den Linden einen Triumph abholen und der jetzt schon schwelenden Debatte um seine GMD-Nachfolgerschaft von Barenboim zusätzlichen Rückenwind verleihen. Sollte er am Ende erfolgreich gewesen sein, entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass er neben seinem Vorgänger dann der zweite Generalmusikdirektor des Hauses wäre, der als Chefdirigent bei den Berliner Philharmonikern abgeblitzt ist. Die Staatsoper Unter den Linden als das Haus der Abgelehnten?
Wer keine Lust auf den neuen Ring an der Staatsoper hat, weil er vielleicht gerade im ebenfalls neuen Ring an der Deutschen Oper war, wird beim Blick in die Spielpläne womöglich etwas ernüchtert sein. So viele Ringe wie derzeit gab es selten, auch an mittleren Häusern wie Dortmund, Saarbrücken oder Oldenburg (selbst wenn hier seit über 100 Jahren zum ersten Mal wieder und damit durchaus mit erheblicher Berechtigung). „Wagner geht immer“ sagen Intendanten und meinen den Publikumszuspruch. Doch was, wenn sich Übersättigung statt Erkenntnisgewinn breitmacht? Im Themen-Beitrag gehen wir dieser Frage nach.
Interessanter sind da womöglich Programmreihen wie am Theater Bonn. Unter dem Titel „Fokus ’33“ werden hier Werke gezeigt, die nach 1933 oder ab 1945 aus den Spielplänen verschwanden oder in diesem Zeitraum entstanden und erst danach überhaupt zur Uraufführung gelangten. Diese Herangehensweise hat in der letzten Saison z.B. zur glücklichen Wiederbegegnung mit Meyerbeers Feldlager in Schlesien geführt, oder bringt in dieser Saison am 16. Oktober Franchettis Asrael ans Licht, den wir in unserer aktuellen „Nahaufnahme“ genauer betrachten. Eine andere Rarität, nämlich die posthume Uraufführung des Samson aus der Feder des vor 200 Jahren geborenen Joachim Raff, wurde bereits im September am Nationaltheater Weimar vorgestellt. Auch hierüber lesen Sie im vorliegenden Heft. Es bleibt die Frage offen, ob besonders interessante Programme nur noch zu erwarten sind, wenn – wie in Bonn und Weimar der Fall – die Theater dafür zusätzliche Fördermittel einstreichen können. Subventionsnomadentum kennt man sonst eher aus der freien Szene.
Anders stellt sich die Situation in Hamburg dar. Hier will der Unternehmer Klaus-Michael Kühne erhebliche Mittel für ein neues Operngebäude zur Verfügung stellen, doch die Stadt zögert. Darüber und wie der Opernneubau viel mehr sein soll als nur ein Opernhaus, nämlich ein Kulturzentrum mit integrierter Oper, haben wir mit Kühne gesprochen. „Die Oper ist tot, es lebe die Oper!“ – treffender könnte der Titel einer neu eröffneten Ausstellung der Bundeskunsthalle Bonn derzeit kaum sein.
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke