An der Staatsoper Hannover gibt Martin Muehle sein Rollendebüt als Otello – in einer schlüssig-packenden Inszenierung und einem überragend sing-spielenden Sängerensemble.
Von Uwe Friedrich
Otellos Offiziersuniform hängt frisch gereinigt in einer Plastikhülle an der Garderobe, statt ihrer trägt er einen Bademantel. Der einst stolze Krieger lungert zwischen Matratzenlager, Kühlschrank und Küchentisch herum, seine früheren Erfolge sind nur noch Erinnerung. Den Jubel für den erfolgreichen Feldherrn hört nur er allein, die Kriegserlebnisse haben diesen Mann so nachhaltig traumatisiert, dass er für den Alltag nicht mehr zu gebrauchen ist. Seine Frau Desdemona kümmert sich zwar aufopferungsvoll um ihn, aber auch sie kann ihn in seiner Wahnwelt nicht mehr erreichen. Das wird deutlich, wenn sie gegen Ende des ersten Akts die Wohnungstür aufschließt und mit den Supermarkteinkäufen zurückkehrt. Das Liebesduett wird so zum Fanal eines Glücks, das nur noch in der Erinnerung existiert. In seiner virtuos psychologisierten und konsequent in die Gegenwart verlegten Inszenierung beleuchtet der Regisseur Immo Karaman die Innenwelt Otellos ebenso genau wie die Gruppendynamik der brutalen Soldatengemeinschaft. Um zum Außenseiter dieser Männerclique zu werden, muss Otello nicht schwarz sein. Es genügt völlig, dass sein Gegenspieler Jago ihn zum Opfer bestimmt hat. So ist Karamans Inszenierung im besten Sinne „ethnisch farbenblind“, denn dieses Schicksal kann jeden ereilen.
Der Bühnenbildner Etienne Pluss hat Otellos trostlose Wohnung so entworfen, dass die Rückwände hochgezogen werden können und den Blick freigeben auf identische Zimmer. Eins kleiner als das andere, leicht nach links verzogen. In der Bühnentiefe feiert die Zivilgesellschaft groteske Feste, während Otello im Vordergrund den Halt verliert. Jago ist einerseits der Strippenzieher einer Intrige, andererseits aber auch der Dämon, von dem Otello immer wieder spricht und dem er nicht entfliehen kann. Gedoppelte und gespiegelte Bewegungen legen den Schluss nahe, dass auch er nur ein Hirngespinst ist. Vielleicht existiert er gar nicht in der realen Welt, ist bloß eine Projektion Otellos, um seine brutalen Ausfälle vor sich selbst rechtfertigen zu können. Im dritten Akt steigert er sich so sehr in seinen Wahn, dass er Desdemona angreift und sie zum Opfer häuslicher Gewalt wird. Schließlich wird der Ehemann zum Entsetzen aller Umstehenden von der Polizei in Handschellen abgeführt.
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