Der Freischütz als Streaming-Premiere aus dem Nationaltheater München überzeugt auf ganzer Linie. Der Regisseur Dmitri Tcherniakov zeigt große Oper als Psycho-Thriller, dazu wird formidabel gesungen und gespielt.
Von Roland H. Dippel
Mit der Waldseligkeit von Friedrich Kinds Freischütz-Textbuch nach der Geschichte aus der finsteren Peripherie Leipzigs in Apels und Launs Gespensterbuch hat Dmitri Tcherniakovs Lounge im globalen Niemandsland nichts zu tun. Carl Maria von Webers Opernsujet („Böhmen kurz nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges“) spielt im Münchner Nationaltheater in ganz naher Zukunft. Die Service-Crew trägt Atemschutz, alle anderen bleiben – schick ausstaffiert von Elena Zaytseva – ohne. Die Pandemie hat man also unter Kontrolle. Tcherniakov setzt in seiner fünften Münchner Inszenierung seine sezierenden Upperglass-Topografien fort. Während der Ouvertüre werden Facepics und Charakterclips von Agathe, Kuno und den anderen projiziert. Später verrät das Display, was sie wirklich denken.
Die trotz beherzter Regie-Bemühungen oft arg betuliche Jägerbraut – so Webers ursprünglicher Titel – gewinnt nicht nur durch das edle Samtvibrato der Südafrikanerin Golda Schultz. Agathe möchte weg aus ihrem Bonzen-Clan. Doch Vater Kuno, der die Geschichte vom Probeschuss wie eine Anekdote zur Markenidentifikation orgelt, richtet ihr die Hochzeit aus. Teil von Agathes Fluchtplan ist, dass sie sich mit Max das größte Weichei, aber auch den einzigen Sensiblen im Trust ausgesucht hat. Das kostet sie die tiefe Freundschaft zu Ännchen. Der Probeschuss ist der Debütantenball für alle, die für ihren Aufstieg über Leichen gehen. Die letzten 20 Opernminuten mit Schuld, Sühne und Hoffnung entspringen Max’ Hirn, dann drückt er ab. Die Wolfsschlucht-Szene war davor ein Gemetzel-Porno im Kopf von Max’ Kollegen Kaspar.
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