LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Die Frage stand im Raum noch lange bevor die Welt von Corona wusste. Doch der Moderator der Abschlussrunde des „Wagner- Kosmos“ Ende Mai an der Oper Dortmund artikulierte sie noch einmal ganz klar, laut vernehmbar und mit rhetorischer Zuspitzung: Würde man das, was man hier in den letzten drei Tagen im Rahmen eines hochkarätig besetzten Vorstellungs- und Diskussionsforums geboten bekam, nicht eigentlich bei den Bayreuther Festspielen erwarten? Natürlich würde man! Und das schon seit Langem! Doch geliefert hat es nun die Oper Dortmund unter ihrem Intendanten Heribert Germeshausen, der all den seit Ewigkeiten vorgebrachten Müsste-, Könnte- und Sollte-mal-Vorschlägen einfach das Tun entgegengesetzt hat. Und das sogar in Corona-Zeiten, in denen andere Häuser vorschnell die Flinte ins Korn warfen, inklusive der Bayreuther Festspiele, die 2020 mit als erstes Festival verkündeten, pandemiebedingt auszusetzen, dann aber von den im selben Sommer erfolgreichen Salzburger Festspielen vorgeführt wurden. Zur absoluten Besonderheit des Dortmunder Wagner-Kosmos gehört es nämlich, dass in ihm nicht nur einschlägige Vorträge und Diskussionsveranstaltungen (die gibt es auch anderswo) zu erleben sind, sondern ebenso ausgewachsene Opern, die immer in Zusammenhang mit dem aktuellen Kosmos-Thema (in diesem Jahr war das „Wahn der Eroberung“) stehen.
Große Werke, die zu unseren Lebzeiten noch nie oder äußerst selten zu sehen waren, gehen mit einem editorischen, inszenatorischen, orchestralen und sängerischen Aufwand über die Bühne, der selbst einen großformatig denkenden Spontini hätte staunen lassen. Sein Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko gab es am Eröffnungsabend des diesjährigen Kosmos zu hören, gefolgt am nächsten Morgen von einem Vortrag von Alex Ross, der aus New York angereist war, um über Baudelaire und die Ursprünge des französischen Wagnerismus zu sprechen. Doch nicht nur Wagner- Experten und Werke von Komponisten, die Wagner beeinflusst haben und umgekehrt, gibt es in Dortmund zu hören, sondern die Opern des Meisters selbst. Mit der Walküre startete man am zweiten Tag in den neuen Dortmunder Ring, inszeniert von Peter Konwitschny, dem am nächsten Abend die bereits 2021 unter Corona- Bedingungen produzierte Frédégonde folgte, ein Drame lyrique von Ernest Guiraud und Camille Saint-Saëns in Zusammenarbeit mit Paul Dukas. Wer den edlen Macht-und Schmachtfetzen über zwei verfeindete Königinnen noch nicht kennt, dem sei dringend eine Hörempfehlung ausgesprochen und neugierige Intendanten seien zum Nachspielen ermutigt!
Bis 2025 ist der Wagner-Kosmos geplant. Jedes Jahr um den Geburtstag Richard Wagners am 22. Mai folgt man besonderen Spuren des Komponisten in seinen Werken. Im nächsten Jahr wird es die Religion sein. Neben Siegfried und Lohengrin wird Halévys La Juive auf dem Programm stehen, gefolgt vom Thema „Ideologie“ 2024 mit Rheingold, Holmès La montagne noire und Nemtsovs Wir. Den Abschluss bildet der komplette Ring im Jahr 2025.
Wer bis nächstes Jahr nicht warten möchte, der kann sich im Deutschen Historischen Museum Berlin noch bis zum 11. September die Ausstellung Richard Wagner und das deutsche Gefühl zu Gemüte führen und Wagner unter einem weiteren Aspekt betrachten. Nicht immer ist es den Kuratoren gelungen, sich dem schwierigen und wolkigen Thema inhaltlich und mit den passenden Exponaten zu nähern, vieles ist aber auch überzeugend. Doch lesen Sie selbst unseren Bericht in der vorliegenden Ausgabe.
Wagner und kein Ende: Noch bevor im Sommer der bereits für 2020 geplante Ring von Valentin Schwarz in Bayreuth herauskommt, ist das Opernhaus Zürich bereits mit einem musikalisch wie szenisch gelungenen Rheingold in die Tetralogie gestartet. Auch Berlin steht bereits ein weiterer neuer Ring bevor, obwohl doch gerade Stefan Herheim seine Version für die Deutsche Oper zu Ende gebracht hat: Im Oktober wollen Dmitri Tcherniakov und Daniel Barenboim alle vier Abende ganz sportlich innerhalb von nur einer Woche realisieren.
Wie grün die Bilanz all dieser Mammutprojekte und des Opernbetriebs generell aussieht, ist ein ganz anderes Thema. Aber eins, das immer mehr an Bedeutung gewinnt und das wir deshalb zum Thema unserer aktuellen Ausgabe gemacht haben. An den Theatern in Regensburg und Gelsenkirchen hat man beschlossen, die Sache systematisch und von vorne anzugehen. Denn valides Zahlenmaterial und belastbare Statistiken sind noch immer die beste Basis für jede Entscheidung. Zumindest das sollten wir aus der Corona-Krise gelernt haben.
Herzlich
Ihr
Ulrich Ruhnke