Barrie Kosky inszeniert Puccinis Turandot an der Amsterdamer Oper. Seine These: Die Hauptfigur existiert gar nicht.
Von Uwe Friedrich
Es beginnt mit einem Wispern. Der Saal des Amsterdamer Opernhauses ist komplett verdunkelt, da wird ein Fremder aufgefordert, seine Frage zu stellen. Turandot werde sich dann schon um ihn kümmern. Langsam wird ein hermetisch verspiegelter Raum sichtbar, in dem die Chorsänger wie schlafend oder tot auf dem Boden liegen. Erst dann fahren die ersten Töne der Partitur kalt und scharf in den Raum. Sofort macht Chefdirigent Lorenzo Viotti klar, dass hier kein chinesisches Märchen erzählt wird, sondern eine grausame Geschichte von Neid, Missgunst und Brutalität. Das trifft sich ideal mit Barrie Koskys These, dass Turandot gar nicht existiert. Sie ist bloß die kollektive Einbildung, mit der eine wankelmütige Masse ihre grenzenlosen Gewaltfantasien begründet. Turandot ist ihre Entschuldigung dafür, jede Grenze zu überschreiten, weil die grausame Herrscherin ihnen keine andere Wahl lasse. Wie Marionetten heben die Choristen synchron die Arme, erwachen zum Leben und formen sich zu einem Schwarm, der schnell bedrohlich wirkt. Sogar die intriganten Minister berufen sich auf die herzlose Prinzessin, obwohl sie genau wissen, dass diese nur eine Phantasmagorie ist, ihr Zynismus lässt bei aller oberflächlichen Heiterkeit der Szene schaudern.
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