Die Mezzosopranistin Lucile Richardot über die Kunst, die eigene Stimme in den Füßen zu spüren – und über gleich vier neue CDs.
Interview: Kai Luehrs-Kaiser
Alle Welt ächzt unter der gegenwärtigen Krise, Sie aber haben vier Neuveröffentlichungen am Start. Sind Sie so eine Rakete?
Direkt auf dem Weg zum Mond…! Plötzlich, wenn man Glück hat, geht’s richtig los. Ob’s anhält, ist eine andere Frage.
Ihre große Besonderheit liegt in der sehr dunklen Farbe Ihrer Stimme – welche dadurch allerdings nicht ein Gramm schwerer oder gravitätischer wird. Wir kommt’s?
Ich bin irgendwie so ein Zwischending. Ich bin Mezzosopran, kann aber trotzdem keinen Cherubino singen. Ich klinge tief, bin aber kein echter Contralto wie Nathalie Stutzmann oder Sara Mingardo. Die Tiefe erschöpft mich. Ich klinge tiefer als ich es wirklich bin. Das ist mein Trick.
Können Sie oder wollen Sie keinen Cherubino singen?
Ich bin auf dem Mozart-Ohr irgendwie taub und verstehe den Komponisten nicht. Ich liebe zwar seine Sakralmusik, nicht aber die Opern. Oft habe ich deshalb Schwierigkeiten. Agenten hören das nämlich gar nicht gerne. Sie wissen nicht, wo sie mich hinstecken sollen.
Beim Stabat mater von Pergolesi wird die Rolle, die Sie in der Neuaufnahme unter Riccardo Minasi singen, sonst mit einem Countertenor besetzt. Warum hier nicht?
Minasi wollte eigentlich beide Solo-Partien mit Männern besetzen. Er fand aber keine, die er für geeignet hielt.
Die Stellen, an denen es heißt „Fac me“, sind oft ein Problem. Wie haben Sie das vermieden?
Wir haben nicht einmal drüber nachgedacht. Minasi, ein sehr experimentierfreudiger, leider auch sehr fordernder Dirigent, ist mit einer amerikanischen Sängerin verheiratet, wird sich also über die Homophonie des „Fac me“ im Klaren gewesen sein. Ich glaube, wenn man die eigene Naivität erst einmal verloren hat, kriegt man sie nie wieder zurück. Ich habe sie noch.
Für Ihre CD „Berio to Sing“ mussten Sie sich in eine Avantgarde-Sängerin verwandeln. Kein Problem?
Eigentlich nicht. Ich habe zu Anfang meiner Laufbahn mehr zeitgenössisches Repertoire gesungen als altes. Die Folk Songs von Luciano Berio stellen außerdem eine Mixtur zwischen alt und neu dar. Sogar Sequenza III und „Michelle II“ aus den Beatles Songs sind mir leichtgefallen, weil der Dirigent des Ensembles, Geoffroy Jourdain, einer meiner ältesten Freunde ist. Ich kenne ihn, seit ich mit elf Jahren angefangen habe zu singen. Grundsätzlich, wie ich glaube, kommt es immer darauf an, Musik mit dem eigenen Körper zu singen. Dabei sollte man sich auf keinen Fall verstellen.
Das Ensemble Les Cris de Paris ist üblicherweise auf Musik des 16. Jahrhunderts spezialisiert. Legen Sie deshalb besonderen Wert auf die harmonischen Strukturen, selbst wenn es sich um atonale Musik handelt?
Das stimmt, und es scheint mir sogar immer der beste Weg. Wir sollten alles von den Harmonien her singen und verstehen. Nur so können wir die Weichheit der Darstellung wahren. Die wichtigste technische Frage besteht immer darin, wie viel Vibrato man zulässt. Aber das gilt für Berlioz und Mahler genauso.
Berios Folk Songs sind berühmt geworden durch die legendäre Cathy Berberian – eher eine Diseuse als klassische Sängerin. Gefällt sie Ihnen?
Oh ja. Man kommt von dieser starken Persönlichkeit kaum wieder los. Inzwischen standen aber schon andere Sängerinnen vor dieser Aufgabe, zum Beispiel Nora Gubisch und Barbara Hannigan. Wir neigen immer zu der Annahme, dass Interpreten, die näher am Original sind, auch authentischer singen. Vielleicht ist das nicht immer der Weisheit letzter Schluss.
Tatsächlich muss man gelegentlich lachen, da Sie den Witz Berios gut treffen.
Eine Frage des Kopfes. Ich singe, und zwar immer, mit einer Kinderstimme. Ich habe sie nie verlernt, wahrscheinlich deswegen, weil ich so spät in den Sängerberuf eingestiegen bin. Ich konnte als 25-Jährige noch immer mit hoher, sehr gerader Kinderstimme singen. Ich kann mich übrigens genauso auch in einen Tenor verwandeln – oder in einen Sopran. Ich fühle mich ein bisschen wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Mit einem sehr schmalen Spalt dazwischen. Ich bin ein Monster.
Bei Gesualdo, einer sehr schillernden Figur, waren Sie da genau an der richtigen Adresse!
Absolut. Gesualdo war Fürst und Mörder, unabhängig sowohl finanziell wie vom Stil seiner Zeit. Melodien wie bei Monteverdi findet man bei ihm nicht. Er wollte keine. Warum man ihn nicht stärker als Ahnherrn der Moderne entdeckt, ist mir rätselhaft. Die Madrigale, von denen wir das dritte und vierte Buch aufgenommen haben, enthalten schockierend befremdende Harmonieverbindungen. Eine Welt für sich. Es ist eine Musik, die mich mitten ins Herz trifft.
Beim Gesualdo-Album mit Les Arts Florissants ebenso wie bei Buxtehude mit dem Ensemble Correspondances treten Sie als Choristin auf. Stört Sie das nicht?
In Membra Jesu nostri habe ich einige wundervolle Soli. Außerdem liebe ich die Polyphonie. Ein ganzer Sänger wird man, glaube ich, erst dann, wenn man sich harmonisch einzufügen weiß. Glauben Sie mir, dabei handelt es sich um nicht mehr oder weniger als die Essenz des gesamten sängerischen Lebens.
Ihre Stimme wird oft als androgyn beschrieben, obwohl Sie selbst ausnehmend weiblich wirken. Wie sehen Sie sich?
Ich verstehe gut, dass das Publikum bei meiner Stimme verwirrt ist. Man hört nicht, ob es sich um eine männliche oder um eine weibliche Stimme handelt. Ich mag dies, es ist mein Material. Ob mehr Testosteron im Körper ist? Ich bezweifle es. Wahr ist, dass ich mehr Fleisch und sogar Fett auf der Stimme habe als andere. Trotzdem bin ich nicht dick. Ich glaube grundsätzlich, dass man sich nie für den eigenen Körper schämen sollte. Und für die eigene Stimme erst recht nicht. Sie ist das Kapital, von dem ich lebe.
Ist die Stimmfarbe in Wirklichkeit eine Sache des Denkens?
Jawohl. Für mich kommt es vor allem darauf an, die Singstimme in die Nähe der Sprechstimme zu bringen. Das fühlt sich am besten für mich an. Ich könnte auch sagen: Man muss die eigene Stimme in den Füßen spüren. Das ist ein ganz wunderbares Gefühl.