Jonas Kaufmann präsentiert sein Debüt-Programm als Intendant der Festspiele in Erl. Dabei schneidet La bohème eher mittelprächtig ab. Fulminant dagegen präsentieren sich Bellinis konzertante I puritani.
Von Michael Stallknecht
Wenn Sängerinnen und Sänger sich dem letzten Drittel ihrer Karriere nähern, bauen die Klügeren unter ihnen vor, etwa mit einer Intendanz. Auch Jonas Kaufmann hat diesen Schritt nun getan: bei den Tiroler Festspielen im schönen Erl an der bayerisch-österreichischen Grenze.
Den leichtesten Job hat sich der Startenor damit für den Einstieg nicht ausgesucht. Seit der Gründer Gustav Kuhn 2018 über #MeToo-Vorwürfe stolperte, befinden sich die Festspiele auf der Suche nach einem neuen Profil, das Urlauber aus der Region ebenso in Opern und Konzerte lockt wie Kulturbeflissene aus dem nahen Innsbruck, Salzburg und München. Immer abhängig von einem Mann, der neben dem örtlichen Passionsspielhaus ein hochmodernes Festspielhaus hochgezogen hat und das Ganze noch immer maßgeblich mitfinanziert, dem österreichischen Bauunternehmer Hans Peter Haselsteiner. Weil vermutlich auch Haselsteiner nicht endlos viel Geld investieren möchte, setzte er nach dem Abgang von Kuhn zunächst auf den erfahrenen Bernd Loebe, den Intendanten der Frankfurter Oper, der in seinem Nebenjob viele junge, noch nicht allzu kostspielige Sänger in Erl auf die Probe stellte. Auf weniger Gegenliebe bei Haselsteiner stieß, dass Loebe ein Faible auch für unbekanntere Stücke hat und damit nicht immer für die erwünschten Auslastungszahlen sorgte. Womit schließlich Jonas Kaufmann ins Spiel kam, der in Zukunft mit seinem Namen und natürlich auch eigenen Auftritten das Publikum in einen Gast- und Festspielbetrieb bringen soll, der mittlerweile fast rund ums Jahr stattfindet, mit Schwerpunkten zu Weihnachten, Ostern und im Sommer.
La bohème
Dabei hält sich der frischgebackene Intendant bei seinen ersten Winterfestspielen noch ziemlich zurück, nimmt dezent im Publikum Platz. So dezent, wie leider auch seine erste Opernpremiere daherkommt, obwohl es sich um ein ausgesprochen populäres Stück handelt, Giacomo Puccinis La bohème. Die Inszenierung von Bárbara Lluch sucht vor allem das Schicksal Mimìs stärker in den Mittelpunkt zu rücken, die hier von Beginn an als Sterbende gezeigt wird. Was sie ansonsten sucht, bleibt unklar, dafür sind die Gesten zu konventionell, die Ästhetik zu beliebig. Immerhin ist im dritten und vierten Akt die Bühne so hübsch eingeschneit wie die Berge rund um Erl.
![La bohème | Erl](https://www.oper-magazin.de/wp-content/uploads/2024/12/54231418426_48eda20867_k-1024x682.jpg)
Ein größeres Problem als die Szene ist ohnehin das Dirigat von Asher Fisch, der von Kaufmann als Musikdirektor der Tiroler Festspiele engagiert wurde. Fisch verfügt über wenig Italianità und taktiert Puccini ziemlich spröde aus, vor allem aber fremdelt er noch mit der Akustik des Festspielhauses, die das Festspielorchester im riesigen Graben schnell zu laut werden lässt. Deutlich zu laut jedenfalls für die hier engagierten Nachwuchssänger. Durchsetzen kann sich am ehesten Long Long, der erst kurz vor der Premiere als Rodolfo eingesprungen ist, ein junger chinesischer Tenor mit Glanz und Schmelz, dazu sympathischer Bühnenerscheinung und Spielfreudigkeit.
I puritani
Was der eigentliche Grund war, Kaufmann nach Erl zu holen, lässt sich eher bei der Aufführung von Vincenzo Bellinis I puritani am Abend danach erahnen: um, in enger Zusammenarbeit mit dem Casting-Direktor des Teatro di San Carlo in Neapel, Ilias Tzempetonidis, ähnlich vielbeschäftigte Promi-Kollegen in die Tiroler Berge zu locken. Jedenfalls für eine konzertante Aufführung wie diese, bei der die Probenzeit deutlich kürzer ist. Mattia Olivieri drückt als Riccardo schon bei der ersten Arie mächtig auf die Baritontube, glänzt auch späterhin mit cremigem Klang und sicherer Höhe. Ebenso gut besetzt ist Giorgi Manoshvili als Giorgio, der mit ebenmäßigem Bass und eleganter Phrasierungskunst geradezu das Ideal väterlicher Fürsorge verkörpert. Zum schmissigen Duett am Ende des zweiten Akts – eines der seltenen für Bariton und Bass – werfen sich beide derart in die Brust, dass das Publikum glatt ein da capo fordert.
Dabei hat auch diese Aufführung mit erkältungsbedingten Umbesetzungen zu kämpfen, ausgerechnet in den besonders anspruchsvollen Partien des Soprans und des Tenors. Doch ein guter Casting-Direktor beweist seine Fähigkeiten nicht zuletzt darin, welche Kontakte er kurzfristig spielen lassen kann. Zum Beispiel zu Jessica Pratt, die gerade als Königin der Nacht im nahen München im Einsatz ist. Und in Erl zeigt, warum sie schon lange zu den gesuchtesten Sopranen im Belcanto-Fach zählt – in den Koloraturen, strahlenden Höhen, Messa-di-voce-Effekten und sonstigen Raffinessen des Ziergesangs, aber auch der leicht dramatischen Schärfe ihrer Stimme, die der brüchigen Figur der Elvira viel Profil gibt.
![I puritani | Erl](https://www.oper-magazin.de/wp-content/uploads/2024/12/Puritani_Erl_ph-Kreativ-Kartell-1024x664.jpg)
Mehr noch wird Levy Sekgapane abverlangt, der als Arturo nicht nur das berüchtigte hohe F souverän in die Linie einbindet, sondern gleich noch ein paar weitere Töne aus der dritten Oktave interpoliert. Dabei stellt der südafrikanische Tenor die Technik keineswegs in den Vordergrund, überzeugt vielmehr ebenso mit der Intensität seiner textklaren Deklamation wie in lyrischen Passagen, bei denen er mit stilsicherem Rubato die weichen Seiten der Figur aufzeigt. Sogar die jungen Comprimarii sind exzellent besetzt, mit auffallend gewichtigem Bass etwa Pawel Horodyski als Gualtiero.
Jedenfalls kommt es an diesem Abend zu einer echten Belcanto-Sternstunde, im Zusammenspiel des Ensembles untereinander, aber auch mit einem Dirigat, das die atmosphärische und dramatische Kraft der Oper betont. Dass Lorenzo Passerini es theatral liebt, zeigt neben dem üppigen Einsatz von Orgel, Glocken, Harfen und Chören hinter der Bühne auch der von Windmaschine und Donnerblech auf der Bühne. Dazu dreht der junge italienische Dirigent hart am Lautstärkeregler, schneidet scharfe Hell-Dunkel-Kontraste aus und spitzt die Phrasen bis an die Grenze zum Exaltierten zu, wobei ihm Festspielorchester und -chor mit bemerkenswerter Flexibilität folgen. Denn Passerinis unermüdlicher Körpereinatz ist sicher nicht sonderlich „kapellmeisterlich“, nimmt aber alle mit im Willen, die Musik maximal aufzupeitschen. Damit sorgt er nicht nur dafür, dass Bellinis letzte Oper alles gefällig Tändelnde, im banalen Sinn „Belcanteske“ abstreift und tödlichen Ernst gewinnt, sondern auch zu einem Abend wird, für den viele erneut nach Tirol reisen würden. Das zeigen die Applausorgien während der Aufführung und die stehenden Ovationen am Ende.