Noch zu Friedenszeiten hatte man Donizettis gerade in Russland seltene Linda di Chamounix auserkoren, um das frühere Pokrovsky-Opernhaus als gleichwertigen Teil des Bolschoi-Theaters aufzuwerten. Nun wurde das Belcanto-Meisterwerk zur ersten komplett nach der Ukraine-Invasion einstudierten Premiere.
Von Aya Makarova
Im Programmheft gibt der ebenso junge wie wagemutige Regisseur Roman Theodori – der seine reiche Sprechtheatererfahrung nun dem Musikdrama zuteilwerden lässt – ein Interview, um sich und sein Projekt zu erklären: „Es ist mittlerweile unmöglich und unnötig, die Realität mit den Mitteln des Theaters zu diskutieren. Wir können uns über Gefühle unterhalten, über Geschmack, Mitleid, Empathie und über die Abwesenheit von Vulgarität. Wir können Musik hören. Sie erfüllt alles, sie gibt der Geschichte Fleisch und Blut. Sie lässt uns etwas empfinden, mit jemand mitfühlen. Alles andere ist in dieser Situation, in der wir leben, kleinlich und gemein.“ Er zieht Parallelen zwischen Linda (di Chamounix) und der Kunstform Oper, die, vergleichbar zur Titelfigur, ebenfalls entwurzelt ist, korrumpiert von der Gegenwart und auf dem besten Weg, den Verstand zu verlieren. So sehr die russische Sprache sich derzeit ins Fabel-hafte zurückziehen muss, die Botschaft ist klar: selbstreferentielle Kunst wäre zu erwarten.
Zum Glück ist dies aber nicht der Fall. Die Auseinandersetzung mit der Realität macht geradezu den Kern der Produktion aus. In drei mit Nuancen und Feinheiten angefüllten Akten versucht Linda zu den Idyllen ihrer Vergangenheit zurückzukehren, in eine Zeit, in der sie in ihrer Naivität noch nicht bemerkte, wie die Welt tatsächlich funktioniert. Die Krise wird im zweiten Akt sichtbar, wenn Linda sich statt in liebreizend-pastoraler Szenerie in einem sterilen weißen Kubus wiederfindet, wo selbst ein barocker Stuhl und Tisch in transparenten Plastikcontainern verschlossen sind. Lindas Double und das ihres Geliebten Carlo exerzieren hier Szenen von Vergewaltigung, Sexarbeit, Demütigung und Entfremdung durch.
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