Mit oder ohne digitales Opernglas: Wache Augen sind in Daniel Kramers Düsseldorfer Inszenierung der Toten Stadt garantiert. Spannungsreich präsentiert, fesselt der Korngold-Abend ungemein und bietet musikalisch durchweg Überzeugendes.
Von Stephan Schwarz-Peters
Es spukt in Brügge. Oder zumindest im Kopf von Paul, der an diesem vom Romancier Georges Rodenbach als „tote Stadt“ besungenen Ort (nun ja) „lebt“ und seine Frau Marie betrauert. Dass Freund Frank, der nach Brügge reist, um besorgt nach dem Rechten zu sehen, nicht gleich wieder rückwärts aus der Tür fällt, nachdem er die grotesk ausgestatteten Räume von Pauls Wohnung betreten hat, zeugt von echter Nervenstärke. Hier sind alle Attribute eines Horrorfilms versammelt, zu denen auch Pauls verschrobenes Puppenmacherhobby gehört. Wie ein Besessener werkelt der Witwer an der Rekonstruktion seiner Holden, hobelt, schraubt und verwirft, bis – O Wunder! – mit der halbseidenen Künstlerin Marietta die perfekte Replik aus Fleisch und Blut in seinem Atelier vorbeigeschneit kommt. Doch selbst im Jenseits möchte Pauls Frau nicht von ihm lassen: ein Gespenst mit bleichem Haar und festem Klammergriff, das sämtliche Albtraumprodukte der Puppenmacherwerkstatt an Grusel übertrifft.
Der Regisseur Daniel Kramer hat sich Vieles und sehr Wirkungsvolles aus dem filmischen Werkzeugkasten des Horrorfilms und des Mystery Thrillers geliehen, um Erich Wolfgang Korngolds nekrophile Opernfantasie Die tote Stadt fachgerecht für die Bühne der Düsseldorfer Rheinoper zu arrangieren. Nicht zuletzt Alfred Hitchcocks 50er-Jahre-Klassiker Vertigo lässt grüßen. Handwerklich ist das, nicht zuletzt dank der zwischen Überladenheit und geometrischer Strenge pendelnden Ausstattung von Marg Horwell und der suggestiven Beleuchtung von Peter Mumford, sehr gelungen, auch dank des verdichteten Ensemblespiels. Sehr eng bleibt Kramer an den Vorgaben des Librettos, deutet das sich zwischen Lähmung und Rasanz in ganz eigenen Zeitsphären abspielende Tempo des Stücks stimmig und kreiert mit adäquat gedrehter Spannungsschraube einen Abend, der über knapp drei Stunden hinweg durchaus fesselt. Selbst für morbide Komik – beim revueartigen, mit den Möglichkeiten eines Tricksargs spielenden Auftritt der Künstlergesellschaft im zweiten Akt – ist hier Platz, wenn die psychologische Deutung aus szenischer Sicht insgesamt etwas schablonenhaft ausfällt – gerade, wenn es beim großen Showdown im dritten Akt nicht der realen Marietta, sondern den zuhauf gefertigten Puppen an den Kragen geht.
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