Auch das Opernhaus Zürich kann seine Premiere von Glucks Orphée et Euridice nur im Stream zeigen – in der äußerst musikalischen Inszenierung von Christoph Marthaler, die hier und da jedoch Fragen offenlässt.
Von Tobias Gerosa
In die Unterwelt geht man allein. Eigentlich! So wäre es auch in Glucks Orphée et Euridice nach der antiken Sage vorgesehen. Bei der jüngsten Premiere des Opernhaus Zürich ist man vermutlich vor allem als Zuschauer allein. Vor dem Bildschirm nämlich. Spielte das Opernhaus im Dezember wenigstens noch für 50 Besucher im Saal und übertrug live auf Arte und online (400.000 Mal soll die Boccanegra-Aufführung dort aufgerufen worden sein!), fand die jüngste Premiere nun vor ganz leerem Raum und nur im Stream statt. Theater am Bildschirm wird nie dasselbe sein wie das Live-Erlebnis, aber für Christoph Marthalers Interpretation dieses Urstoffes passt die Vereinzelung schon fast erschreckend gut.
Orpheus (oder eben Orphée) könnte eigentlich auch allein in die Unterwelt hinabsteigen, um seine Geliebte Eurydike (Euridice) zurück auf die Welt zu holen. Bei Marthaler nun geistern konstant sieben Figuren um ihn herum. Zum Glück benennt sie der Besetzungszettel als „selige und unselige Geister“, man wüsste sonst kaum, wie man sie bezeichnen müsste. Die Scheidung der Unterwelt in diejenige der Glücklichen beziehungsweise Unglücklichen gibt es bei Marthaler nämlich nicht mehr, alles ist ein etwas steriles Café voller Türen und Lifte, die ins Unbekannte oder das gar nicht vorhandene Obergeschoss führen. In Anna Viebrocks Raum weiß man nie, wo gerade ein Durchgang auf- oder zugeht oder wer gerade um die Ecke kommt: Eine verkleidet wirkende Diva (die erfrischend quirlig singende Alice Duport-Percier als L’Amour)? Ein Bilderbuchagent? Eine Tänzerin? Rätselhaft sind sie alle, sogar der graue Bürokrat, der an allen dramaturgisch wichtigen Stellen aus seinem Köfferchen die richtigen Stempel und Formulare herauszieht und auf dem Taufstein ausfüllt. Ordnung muss sein, auch wenn niemand versteht, wozu. Oder gerade darum.
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